„Das sind keine Frauenfragen“ – Prof. Dr. Eva Kocher über feministisches Denken im Arbeitsrecht

Prof. Dr. Eva Kocher hat unter dem Titel „Das Andere des Arbeitsrechts“ eine Sammlung ihrer Beiträge aus mehr als 20 Jahren Forschung zusammengetragen. Anlässlich des Frauentages am 8. März 2024 spricht sie darüber, was ein feministischer Blickwinkel im Recht bedeutet, wie das Recht Geschlechterstereotype fixiert und welches strukturelle Problem dahintersteckt.

Frau Kocher, der Untertitel Ihres Buches lautet „Perspektiven feministischen Rechtsdenkens“. Was bedeutet das: feministisches Rechtsdenken?

Es geht darum, auf das Recht zu schauen unter der Perspektive, was zu einer geschlechtergerechten Gesellschaft beitragen kann, welche Transformationsperspektiven im Recht stecken, aber auch welche Barrieren bestehen und inwieweit das Recht Geschlechterstereotype fixiert oder fördert.

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Schauen wir zuerst auf die Chancen: Wie kann das Recht aus Ihrer Sicht zu einer geschlechtergerechten Gesellschaft beitragen?

Über das Antidiskriminierungsrecht haben wir ganz große Chancen, Verfestigungen von Ungleichheiten und Ungleichbehandlungen rechtlich zu thematisieren und zu strukturieren.

Warum ist diese feministische Perspektive gerade im Arbeitsrecht interessant?

Das Recht unterscheidet zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen und privaten Bereichen und strukturiert sie dadurch mit. Wir haben einerseits die Arbeit mit Arbeitsbereichen und Arbeitsverträgen und andererseits haben wir die Familie und das Private. Dazwischen gibt es eine rechtlich gefasste Barriere; entweder man leistet „Arbeit“ oder man „engagiert“ sich in der Familie. Nicht nur dann, wenn jemand alleinerziehend ist und in einem Schichtsystem von 8 bis 15 Uhr arbeitet, kann diese Aufteilung schwierig werden. Am Ende arbeiten viele Frauen nach der Geburt eines Kindes nur noch Teilzeit, steigen langsam aus oder kämpfen mit Schwierigkeiten, wieder einzusteigen. Das Arbeitsrecht ermöglicht zwar mittlerweile Durchlässigkeiten, das ist aber oft konfliktreich und schwierig durchzusetzen.

Warum ist das so?

Weil das Recht hier meist nur „individuelle“ Ansprüche von Einzelpersonen regelt. Jede Alleinerziehende wird dadurch im Betrieb plötzlich zur Exotin, die eine Extrawurst gebraten haben will. Es wird zu wenig strukturell gedacht; schließlich müssten z. B. Arbeitszeiten eigentlich generell so gestaltet sein, dass es kein Problem ist, beruflich zu arbeiten und Kinder zu groß zu ziehen oder sich um Angehörige zu kümmern.

Wo liegen weitere Probleme?

Gerade bin ich in der Feministischen Spring School für Arbeits- und Sozialrecht, die ich mit anderen Kolleginnen organisiert habe; da haben wir uns unter anderem mit dem Mutterschutz beschäftigt. Es ist auffallend, dass in anderen Ländern die Gesundheit der Mutter auf der Arbeit geschützt wird, während in Deutschland immer noch viele denken, dass eine Frau nicht mehr arbeiten könne, wenn sie schwanger ist. Hier legen Arbeitgeber den Schwangeren häufig nahe, dass sie zu Hause bleiben, weil sie wissen, dass es dafür 100 Prozent Entgelterstattung gibt. Das ist letztlich geschlechterstereotypes Denken: Wenn eine Frau Mutter wird, gehört sie erstmal nicht auf die Arbeit.

Ist Ihre Perspektive in der Rechtswissenschaft etabliert und können Sie sie auch in der Lehre an der Viadrina einbringen?

Antidiskriminierungsrecht müssen Arbeitsrechtler*innen schon im Blick haben. Aber eine Perspektive gesellschaftlicher Transformation auf das Arbeitsrecht begegnet einem eher selten. An der Viadrina hoffe ich in den kommenden Semestern die Themen auch in der Lehre unterbringen zu können. Gut ist es aber auch, wenn Studierende sich über die Lehre hinaus einbringen, z. B. Gruppen gründen, wie die kritischen Jurist*innen, die es auch an der Viadrina gibt.

Was war Ihre Motivation für das Buch, das Texte aus mehr als 20 Jahren vereint?

Ich habe zuletzt ein paar Aufsätze veröffentlicht, zum Beispiel einen über die Objektivität im Recht, die sehr viel zitiert und gelesen werden von Menschen, die auf der Suche nach feministischer Rechtsliteratur sind. Andere Texte, die auch feministische Perspektiven einbringen, werden dagegen oft weniger wahrgenommen, wenn ich mich zum Beispiel damit beschäftige, wie das Recht Prozesse von Arbeitszeitflexibilisierung gestalten kann oder wie Behindertendiskriminierungsschutz funktioniert. Meine Hoffnung ist, dass eine Sammlung dieser unterschiedlichen Texte die Zusammenhänge aufzeigt. Und ich hoffe, damit auch nicht-juristische Leser*innen zu erreichen.

Und Sie denken dabei auch nicht nur an die weiblichen Leserinnen…?

Überhaupt nicht! Keine einzige dieser Fragen ist eine „Frauenfrage“; auch Mutterschutz und mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie sind nicht nur Probleme von Frauen, sondern werden ganz schnell auch zu Problem einer Paarbeziehung. Letztlich geht es hier nicht um weibliche und männliche Perspektiven, sondern darum, welches Zusammenleben wir uns in der Gesellschaft vorstellen.

Interview: Frauke Adesiyan
Foto: Privat

Das Buch „Das Andere des Arbeitsrechts. Perspektiven feministischen Rechtsdenkens“ ist Ende Februar 2024 im Velbrück Verlag erschienen. Dank einer Förderung durch die Vernetzungs- und Kompetenzstelle Open Access Brandenburg ist das Buch kostenfrei als Download verfügbar.

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