„Es ist nicht Aufgabe der Wissenschaft, politische Forderungen wissenschaftlich zu untermauern“

Welche Auswirkungen hat der Krieg gegen die Ukraine auf wissenschaftliche Diskurse über das Land und wie verändert er die Rolle von Forscherinnen und Forschern? Zwei Jahre nach dem umfassenden Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 spricht der Viadrina-Historiker Prof. Dr. Andrii Portnov über neue Perspektiven und die Rolle der Viadrina in der Ukrainistik.

Prof. Portnov, hat sich der wissenschaftliche Blick auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 verändert?

‌Die russische Invasion und vor allem die von vielen unerwartete Fähigkeit der ukrainischen Gesellschaft, Widerstand zu leisten, machten die Ukraine zu einem der wichtigsten Themen weltweit. In der internationalen Wissenschaft haben ernsthafte Diskussionen über die „Entkolonialisierung“ der Osteuropastudien und die Abkehr vom üblichen Russozentrismus begonnen. Gleichzeitig reiste eine noch nie dagewesene Zahl ukrainischer Forscherinnen ins Ausland und kam so in direkten Kontakt mit dem deutschen, polnischen, tschechischen oder amerikanischen Wissenschaftssystem. Die Folgen all dieser Prozesse werden wir in den kommenden Jahren sehen. Meiner Meinung nach ist es noch zu früh, um von bedeutenden methodologischen Veränderungen oder epistemologischen Durchbrüchen zu sprechen, die in den letzten zwei Jahren stattgefunden haben. Wir können aber von einer wachsenden Präsenz der ukrainischen Sprachlehre an den Universitäten sprechen und mit Stolz erwähnen, dass die Viadrina die erste Universität in Brandenburg und Berlin war, die ein unbefristetes ukrainisches Lektorat eingerichtet hat.

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Wie schauen Sie als Historiker auf die Veränderungen der vergangenen zwei Jahre?

Als Historiker habe ich in den letzten zwei Jahren bei vielen Kolleginnen und Kollegen eine starke Versuchung festgestellt, den von Russland entfesselten Krieg im rein lokalen Kontext der russisch-ukrainischen Geschichte zu beschreiben. Meiner Meinung nach brauchen wir dringend eine globalere Perspektive, die es uns ermöglicht, den Einmarsch Russlands in die Ukraine als den bedeutendsten Versuch seit 1945 zu sehen, die globale Sicherheitsarchitektur zu verändern – ein Versuch, der auch Ereignisse und Akteure aus dem Nahen Osten, Asien und Afrika umfasst. Ich behaupte, dass wir an der Schwelle zu einer neuen Weltordnung stehen und dass wir immer noch Angst haben, das Ausmaß dieser Veränderungen zu erkennen.‌


Wie schätzen Sie die Rolle der Viadrina im Hinblick auf die Ukraine-Forschung ein?

‌Es liegt auf der Hand, dass unsere Viadrina sowohl durch ihre geografische Lage auf beiden Seiten der Oder als auch durch ihre Geschichte ideal für die Rolle eines führenden Zentrums für Ukraine-Forschung geeignet ist – und das nicht nur in Deutschland. In diesem Sinne sehen wir auch die Entwicklung unseres Viadrina Center of Polish and Ukrainian Studies (VCPU). Es soll die verschiedenen interdisziplinären Osteuropastudien, die an der Viadrina bereits stattfinden, koordinieren. Es soll dazu beitragen, Grundlagenwerke zu ukrainischen Themen zu erarbeiten und zu publizieren (eine deutschsprachige Geschichte der ukrainischen Literatur gibt es zum Beispiel noch nicht) und umfassende Forschung und Lehre zu polnisch-ukrainischen Themen in ihrer Verflechtung produktiv zu entwickeln. Für mich persönlich ist diese polnisch-ukrainische verflochtene Perspektive besonders wichtig, weil Ukrainistik nicht nur ein lokales Thema ist. Sie ist ein möglicher Schlüssel zum konzeptuellen Überdenken globaler Themen wie Migration, sprachliche und religiöse Identifikationen oder politischer Pluralismus.


Welche Rolle nehmen Sie als Wissenschaftler in dieser Zeit des Krieges ein?

Die Grundprinzipien wissenschaftlichen Arbeitens sind unverändert. In einer Kriegssituation, so wie in jeder anderen, sollte sich ein Geisteswissenschaftler um eine möglichst breite Nutzung der Quellen, um eine möglichst offene und kritische Interpretation derselben und um einen möglichst produktiven Einsatz vergleichender Methoden bemühen. Ich bin nicht der Meinung, dass es die Aufgabe der Wissenschaft sein sollte, die Forschung bewusst zu „aktualisieren“ oder gar aktuelle politische Forderungen „wissenschaftlich zu untermauern“. Ich persönlich habe beschlossen, einen beträchtlichen Teil meiner Zeit bewusst dem Transfer des wissenschaftlichen Wissens aus der Ukraineforschung zu widmen,; sowohl durch aktive Medienarbeit – von bedeutenden Zeitungen bis hin zu Social-Media-Kanälen wie Instagram und YouTube –, als auch, indem ich an einer Einführung in die Ukraine-Studien arbeite, die hoffentlich noch in diesem Jahr in einem akademischen deutschen Verlag erscheinen wird.


Prof. Dr. Andrii Portnov hat seit 2018 die Viadrina-Professur „Entangled History of Ukraine“ inne. Seit Oktober 2023 ist er Ko-Direktor des neugegründeten Viadrina Center of Polish and Ukrainian Studies

 

Interview: Frauke Adesiyan
Foto: Heide Fest

Abteilung für Hochschul­kommunikation