Besuch von Lehrenden der litauischen Mykolas-Romeris-Universität an der Viadrina
Vom 6. bis 8. Mai 2025 waren Prof. Dr. Sigita Rackevičienė und Dr. Eglė Selevičienė, Dozentinnen an der Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften der Mykolas-Romeris-Universität (MRU) in Litauen, an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), Deutschland zu Gast.
Vom 6. bis 8. Mai 2025 waren Prof. Dr. Sigita Rackevičienė und Dr. Eglė Selevičienė, Dozentinnen an der Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften der Mykolas-Romeris-Universität (MRU) in Litauen, an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), Deutschland zu Gast. Beide Universitäten sind Mitglieder der Hochschulallianz ERUA. Im Fokus des ERASMUS+-Lehrbesuchs standen Lehrveranstaltungen zu den Themen interkulturelle und sprachliche Beziehungen und Identität sowie die Präsentation der laufenden Forschungsprojekte der MRU an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Viadrina-Universität.

Andrea Gremels
Der Gastvortrag von Prof. Dr. Rackevičienė und Dr. Selevičienė im MA-Seminar „‚Trauma‘: Postfaschistische und postkoloniale Erinnerungskulturen“ trug maßgeblich zum gegenseitigen Verständnis und Austausch zwischen den Kollegen der beiden ERUA-Partneruniversitäten bei. Die Veranstaltung bot einen Überblick über die historischen, kulturellen und sprachlichen Verbindungen zwischen Deutschland und Litauen, das auch historische Traumata infolge des Nationalsozialismus und der sowjetischen Herrschaft im Baltikum einschließt. Anhand einer Reihe von Dokumenten – darunter die Quedlinburger Chroniken, die Gediminas-Briefe, von deutschen Linguist*innen zusammengestellte Grammatiken und Wörterbücher der litauischen Sprache, der Molotow-Ribbentrop-Pakt, der Vertrag über die litauisch-deutsche Verteidigungszusammenarbeit usw. – wurden sowohl die positiven als auch die negativen Erfahrungen der Menschen in Litauen thematisiert. Rackevičienė und Selevičienė zeigten dabei zugleich auf, wie die traumatischen Verbindungen zwischen Deutschland und Litauen möglicherweise überwunden werden können. Ein Schritt in Richtung Versöhnung war die Wiederentdeckung des litauischen Unabhängigkeitsvertrags von 1914 durch Liudas Mažylis in einem Berliner Archiv im Jahr 2017. Angesichts der aktuellen Gefahr einer russischen Invasion erfährt Litauen auch Unterstützung durch die Verteidigungszusammenarbeit zwischen den beiden Ländern.
Rackevičienė und Selevičienė konnten den Studierenden des Viadrina-Masterstudiengangs „Ästhetik – Literatur – Philosophie“ auch die Bedeutung der Literatur für die Bewahrung der nationalen und sprachlichen Identität verdeutlichen. Zwischen 1864 und 1904 retteten Buchschmuggler*innen die litauische Literatur vor dem russischen Presseverbot, indem sie unter Einsatz ihres Lebens illegal Bücher aus Ostpreußen ins Land zurückbrachten. Einer der Studierenden war insbesondere für den Hinweis auf das Verbot des Litauischen im 19. Jahrhundert dankbar: „ein Aspekt, der exemplarisch zeigt, wie Sprachpolitik als Instrument politischer und kultureller Unterdrückung fungieren kann und Betroffene trotz allem kreative Wege fanden, sich der intendierten Auslöschung ihrer kulturellen Identität zur widersetzen“. So vertiefte der Vortrag das Wissen der Teilnehmenden über Litauen und schärfte gleichzeitig ihr Bewusstsein für die Bedeutung von Sprache als Teil der kulturellen Identität. Aus Studierendensicht war daran eindrucksvoll zu erleben, „wie stark individuelle und kollektive Erinnerung miteinander verflochten sind – und welche Rolle persönliche Erzählungen für das Verständnis historischer Prozesse und Kontinuitäten traumatischer Erfahrung in spielen können“. Für die Studierenden des Seminars war es eine aufschlussreiche Erkenntnis, „dass historische Traumata – etwa durch die deutsche NS-Besatzung oder sowjetische Repression – nicht isoliert zu betrachten sind, sondern sich über Generationen hinweg im Privaten wie im Gesellschaftlichen fortschreiben.“
Rackevičienė und Selevičienė stellten auch aktuelle Forschungsprojekte des Instituts für Geisteswissenschaften an der MRU vor, darunter eine studentische Studie über künstliche Intelligenz im akademischen Schreiben sowie ein Projekt zur Terminologie der Cybersicherheit, und sie berichteten auch von persönlichen Erlebnissen ihrer Familien, in denen sich das traumatische Erbe sowohl des faschistischen als auch des sowjetischen Regimes bis heute widerspiegelt. Es zeigte sich, dass die Wunden historischer Gewalt und Unterdrückung nicht verheilt sind und historische Unterdrückungserfahrungen das individuelle und kollektive Gedächtnis der Menschen in Litauen noch immer verfolgen. Der Vortrag leistete damit auch einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis des Zusammenhangs zwischen Sprache, Identität und historischen Erfahrungen imperialer Gewalt und Unterwerfung.
Bei ihrem Besuch wurden Sigita Rackevičienė und Eglė Selevičienė an der Viadrina von Prof. Dr. Britta Schneider und PD Dr. Andrea Gremels herzlich empfangen und betreut. Beide Gastgeberinnen zeigten sich dankbar, etwas gelernt zu haben „über das, was uns verbindet, aber auch über das, was uns trennt: eine gemeinsame indogermanische Sprachgeschichte und die schmerzhaften Auswirkungen des deutschen Faschismus auf die Menschen in Litauen.“ Prof. Dr. Schneider und PD Dr. Gremels dankten ihren Gästen ausdrücklich für das Vertrauen, traumatische Erfahrungen aus ihrer eigenen Familiengeschichte zu teilen. Auch der akademische Austausch kann Wege zur Versöhnung eröffnen. In der Hoffnung, dass der Besuch nur der Beginn einer längeren und fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen den beiden ERUA-Partneruniversitäten markiert, waren sich alle Beteiligten einig.
Der Beitrag wurde gemeinschaftlich verfasst von:
PD Dr. Andrea Gremels, Lehrstuhl Westeuropäische Literaturen,
Prof. Dr. Britta Schneider, Professur für Migration und Sprachgebrauch,
Studierende des MA Soziokulturelle Studien und des MA Ästhetik – Literatur – Philosophie der kulturwissenschaftlichen Fakultät,
Prof. Dr. Sigita Rackevičienė und Dr. Egle Selevičienė, Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften der Mykolas-Romeris-Universität (MRU), Litauen
Andrea Gremels
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