Lernziel Selbstwirksamkeit – Seminar über „Demokratie in der Krise?“

Frankfurt (Oder), 

Elisa Lehrer, Lilo Meier und Anna Rößner wollten sich nicht mehr nur Sorgen um die Demokratie machen. Mit dem Wunsch nach mehr Selbstwirksamkeit für sich und Studierende konzipierten die Dozentinnen der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät im Sommersemester 2025 das Seminar „Democracy in Crisis?“. Sie luden Expert*innen aus allen Fakultäten ein, gingen auf Exkursionen und simulierten Europapolitik. Gemeinsam mit ihren Studierenden gingen sie den Fragen nach, wodurch die Demokratie unter Druck gerät.

„Hier geht es nicht ums Strahlen, hier geht es darum zu verstehen, wie die anderen denken“, stellt Mario Clemens gleich zu Beginn seines Workshops klar. Was als Anleitung für seine Übung gedacht ist, beschreibt den Kern des Seminars „Democracy in Crisis“ ziemlich treffend. Mit den rund 40 Studierenden wird der wissenschaftliche Mitarbeiter vom Institut für Konfliktmanagement der Viadrina an diesem Nachmittag in intensiven Formaten üben Meinungen auszusprechen, anderen zuzuhören, einander zu widersprechen, Erfahrungen zu teilen. Es gibt kein Richtig und Falsch; was zählt, ist die Suche nach einem gemeinsamen Verständnis.

Mit Sokrates Demokratie verstehen

Mario Clemens fordert die Studierenden auf, sich im Seminarraum buchstäblich zu positionieren und einen Platz einzunehmen, der anzeigt, wie sehr sie bestimmten Aussagen zustimmen. Es geht um Feststellungen wie „Einige politische Bewertungen sind besser als andere“ oder „Es ist schwierig, Fakten und Werte auseinanderzuhalten“. Die Gruppe braucht nicht lange, um warm zu werden. Schnell kommen die Teilnehmenden ins Gespräch, schildern ihre Erfahrungen, die sie in Indien, im Iran oder in Brandenburg gemacht haben. Mit Hilfe der sogenannten sokratischen Methode ermuntert Clemens die internationalen Studierenden, ihr Denken und vorgefertigte Antworten zu hinterfragen. „Wir verstehen in diesen Workshops besser, was Demokratie wirklich bedeutet, wie schwierig es sein kann, eine Meinung zu entwickeln und Kompromisse zu finden“, sagt die Studentin Farnaz Ghayeghi über das, was sie aus den Stunden mit Clemens und anderen Dozierenden mitnimmt. 

galerie democracy in crisis

Selbstwirksamkeit von Lehrenden und Studierenden als Ziel

Mario Clemens ist einer von vielen Gästen, die Elisa Lehrer, Lilo Meier und Dr. Anna Rößner in ihr interdisziplinäres Seminar eingeladen haben. Dozierende aus allen Fakultäten haben mit den Teilnehmenden gearbeitet; sie haben Musikvideos analysiert, über Feminismus gesprochen und die Funktionsweise europäischer Institutionen vermittelt. Hinzu kamen Exkursionen, Planspiele und schließlich eine Abschlussreise nach Vilnius in Litauen. Das Ziel des Seminars: Studierende dazu einladen, sich kritisch mit den Herausforderungen für Demokratien an der Schnittstelle von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft auseinanderzusetzen.

„Die Seminaridee ist aus einer sehr persönlichen Perspektive entstanden“, sagt Elisa Lehrer. Mit ihren Kolleginnen habe sie sich angesichts der zunehmend unter Druck stehenden demokratischen Gesellschaft gefragt: „Was können wir tun, außer, uns Sorgen zu machen? Wir wollten in unserer professionellen Rolle selbstwirksam werden und auch Studierende befähigen, selbstwirksam zu sein.“ Gemeinsam haben sie die Idee des disziplinen- und lehrformateübergreifenden Seminars entwickelt und den an der Viadrina vorhandenen Pool von Expert*innen zum Thema eingebunden.

Idealvorstellung von guter Lehre umgesetzt

Interaktiv und abwechslungsreich haben die Dozentinnen der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät das Seminar gestaltet; sie haben Zeit eingeplant, um sich an den Bedürfnissen der Studierenden zu orientieren und ihnen auch in den Prüfungsformaten jenseits von Multiple-Choice-Tests Raum für Vorlieben und Reflexion gegeben. „Gute Lehre ist für uns mehr als reine Wissensvermittlung. Sie befähigt Studierende zum eigenständigen und kritischen Denken“, beschreibt Anna Rößner ihre Vorstellung. Sie möchte Studierende begeistern, Interesse für neue Themengebiete wecken und sie dazu anregen, gesellschaftlich Verantwortung zu übernehmen. Ein Idealbild von Lehre, das für sie als Dozentinnen große Vorteile habe: „Dieses Seminar ist auch für uns als Lehrpersonen ein Lernprozess, eine dialogische Weiterentwicklung mit einer sehr heterogenen Lerngruppe.“

Statements und Eindrücke vom Seminar im Video

Vielfalt von Themen und Perspektiven

Für die IBA-Studentin Nikhila Prakash, die ursprünglich aus Indien kommt, war die Vielfalt im Seminar besonders bereichernd: „Ich denke viel über die Krise nach, in der sich die Demokratie befindet, und ich möchte besser verstehen, woher das kommt und warum Menschen wählen, wie sie wählen.“  Sie habe viel darüber gelernt, wie ihre Kommiliton*innen denken und wie sie in ihren Ländern auf die Demokratie schauen. Aus dem Seminar nimmt sie mit, wie wichtig es ist, die eigene Meinung zu artikulieren. „Man selbst ist in seiner Perspektive beschränkt. Im Gespräch mit anderen kann man sich auch korrigieren“, so ihre Einsicht.

Eine Erfahrung, die auch der Deutsch-Amerikaner Matthew Stehman teilt, den besonders ein Vortrag über feministische Sichtweisen von der Viadrina-Forscherin Rawina Trautmann beeindruckt hat. „Als Mann ist es oft schwer zu verstehen, welchen Herausforderungen Frauen in Demokratien auch heute noch gegenüberstehen. Durch die Präsentation habe ich auf jeden Fall mehr Empathie für Frauen und ihr Verhalten entwickelt“, so Stehman. Sein Mitstudent Lexus Aggrey betont die Aktualität der behandelten Themen: „In anderen Kursen werden gesellschaftliche Veränderungen durch Immigration, Diversität oder Extremismus nicht angegangen. Das war hier eine außergewöhnliche Gelegenheit.“

Die Dozentinnen sind davon beeindruckt, wie offen und aktiv die Studierenden die verschiedenen Lehrformate mitgestaltet haben – für sie eine Bestätigung dafür, dass sich die Investition in gute Lehre lohnt, auch wenn sie einen großen Mehraufwand bedeutet. „Es ist unser Herzensprojekt, aber es beinhaltet auch wahnsinnigen Koordinationsaufwand, viel Arbeit, viel Zeit von unterschiedlichen Leuten“, zieht Lilo Meier ein Fazit. Für ein solches Lehrprojekt gebe es nicht immer den Raum, man müsse ihn sich ganz bewusst nehmen. Neben dem Aufwand sei die zweite große Herausforderung die Intensität und Komplexität der behandelten Fragen, so Lilo Meier: „Wir sprechen sensible Themen an: Gender, Rassismus, die Frage von Klassen … Da mussten auch wir lernen: Wie gehen wir mit unterschiedlichen Meinungen um? Das gehört dazu, wenn wir über Demokratie sprechen: Pluralität auf allen Ebenen.“

Faculty Learning Community „Demokratische Räume gestalten“

Ein Ort, um auch solche Herausforderungen zu besprechen, ist die von den Dozentinnen geleitete Faculty Learning Community (FLC) „Demokratische Räume gestalten: Hochschule zwischen Neutralität und gesellschaftlicher Verantwortung“. In der Community haben die Dozentinnen gemeinsam mit weiteren Lehrenden und Viadrina-Beschäftigten aus anderen Bereichen einen Diskussionsraum über die Rolle der Universität in gesellschaftlich und politisch bewegten Zeiten geschaffen. In der Gruppe entstand auch der Wunsch, langfristige Formate zu entwickeln, die den Grundgedanken der demokratischen Räume aufgreifen. Die Vernetzung mit Kolleg*innen, die in anderen Bereichen der Viadrina und in Interaktionen mit der Stadtgesellschaft aktiv sind, sei ein großer Nutzen der FLC, sagt Lilo Meier. „Diese Gruppe hat uns das überraschende und super schöne Gefühl gegeben, dass wir nicht die einzigen sind, denen das Thema am Herzen liegt.“

Frauke Adesiyan

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