„Es ist entscheidend, eine humanitäre Perspektive zu wahren“ – Interview mit Gastprofessor Gencer Özcan

Frankfurt (Oder), 

Prof. Dr. Gencer Özcan lehrte im Sommersemester 2025 als Aziz-Nesin-Gastprofessor an der Viadrina. In diesem Interview, das er den Studierenden für den Newsletter des Studiengangs Master of European Studies (MES) gab, spricht er über sein Seminarthema: die aktuellen Probleme im Nahen Osten. Er erklärt, wie er als Dozent mit schwierigen Themen umgeht und warum er die Viadrina-Studierenden für besonders informiert und kritisch hält.

Professor Özcan, können Sie sich und Ihren akademischen Hintergrund kurz vorstellen? Was hat Sie dazu gebracht, sich auf die Politik des Nahen Ostens und die türkische Außenpolitik zu spezialisieren?

Ich habe an der Fakultät für Politikwissenschaften der Universität Ankara studiert und an der Boğaziçi-Universität promoviert. Nachdem ich an den Technischen Universitäten Marmara und Yıldız gearbeitet habe, bin ich seit 2009 Mitglied der Fakultät für Internationale Beziehungen der Istanbul Bilgi University. Meine Forschungsinteressen sind politische Geschichte, der außen- und sicherheitspolitische Entscheidungsprozess der Türkei, die Rolle des Militärs bei außenpolitischen Entscheidungen der Türkei, die Politik der Türkei gegenüber dem Nahen Osten und die türkisch-israelischen Beziehungen.

Wenn man sich für irgendeinen Aspekt der türkischen Politik interessiert, muss man sich zwangsläufig auch mit der Politik des Nahen Ostens beschäftigen. Als ich meine akademische Laufbahn begann, kämpfte die gesamte Region mit den Nachwirkungen der iranischen Revolution. Der Iran-Irak-Krieg, die irakische Invasion in Kuwait, der Golfkrieg – alle bedeutenden regionalen Ereignisse fanden in der unmittelbaren Umgebung der Türkei statt und hatten tiefgreifende Auswirkungen auf ihre Politik und Wirtschaft. Daher war es für Studierende der türkischen Politik schon immer unerlässlich, die Geschehnisse im Nahen Osten genau zu untersuchen.

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Sie haben an der Viadrina den Kurs „Aktuelle Themen im Nahen Osten“ unterrichtet. Was waren die wichtigsten Lernziele, die Sie mit Ihren Studierenden erreichen wollten?

Dieser Kurs steht schon seit 20 Jahren auf meinem Lehrplan. An der Istanbul Bilgi University ziehen die Kurse über den Nahen Osten eine vielfältige Gruppe internationaler Studierender an. Solche aus Ländern des Nahen Ostens und Erasmus-Austauschstudierende sorgen für eine abwechslungsreiche Atmosphäre im Seminarraum, die für mich als Dozenten eine zusätzliche Motivation darstellt. Je mehr ich unterrichte, desto mehr lerne ich. Auf die Lernziele bezogen, ist es mein Hauptziel, den Studierenden zu helfen, die aktuellen Entwicklungen in der Region zu historisieren und in einen Kontext zu stellen.

Ihr Kurs deckt ein breites Spektrum regionaler Entwicklungen ab, von den Aufständen im sogenannten Arabischen Frühling über den Aufstieg des Islamischen Staates bis hin zu den Ereignissen seit dem 7. Oktober 2023 in Gaza und Israel. Wie gehen Sie im Unterricht mit solch sensiblen Themen um und fördern gleichzeitig eine offene und kritische Diskussion?

Die Art und Weise, wie man an ein Thema herangeht, hat einen großen Einfluss auf die eigene Perspektive. Während der Sitzungen fand ich es schwierig, bei bestimmten Themen völlig objektiv zu bleiben. Es ist fast unmöglich, seine politischen Überzeugungen oder persönlichen Einstellungen an der Tür des Seminarraumes abzulegen. Der entscheidendere Aspekt ist jedoch, bei allen politischen oder strategischen Überlegungen eine humanitäre Perspektive zu wahren. Indem Sie diese Sichtweise mit den Studierenden teilen, fördern Sie eine Atmosphäre des gegenseitigen Verständnisses, die es allen ermöglicht, sich mit konstruktiver Kritik an Diskussionen zu beteiligen.

Wie beurteilen Sie das Erbe der arabischen Aufstände mehr als zehn Jahre danach? Erleben wir die Nachwirkungen eines gescheiterten Übergangs oder die Entstehung einer neuen regionalen Ordnung?

Das allgemeine Vermächtnis der Aufstände ist leider nicht sehr vielversprechend, was die demokratischen Rechte und Freiheiten in den betroffenen Ländern angeht. Diese Aufstände haben nicht zu einer demokratischen Transformation geführt. Vielmehr haben sie ein Umfeld geschaffen, das internationale Interventionen begünstigt. In Ländern wie Syrien und Jemen verwandelten die Aufstände diese Länder in Schlachtfelder für die regionale Vorherrschaft. Das Leid der Menschen war die letzte Konsequenz.

Im Hinblick auf die Entstehung einer neuen regionalen Ordnung ist die Situation klarer geworden. Seit dem Abschluss der Abraham-Abkommen im Jahr 2020 hat sich eine neue Ordnung herausgebildet, die ich als „Pax Abrahamica“ bezeichne. Trotz verschiedener Versuche, die Abkommen zu untergraben, ist die regionale Sicherheitsstruktur, die unter der Führung der Vereinigten Staaten aufgebaut wurde, intakt geblieben.

Wie wirkt sich Ihrer Meinung nach der aktuelle Konflikt zwischen Israel und dem Iran auf das Kräfteverhältnis im Nahen Osten aus, und welche Rolle könnten andere Länder dabei spielen?

Wie ich bereits erwähnt habe, sehe ich den 12-Tage-Krieg im Kontext der sich entwickelnden regionalen Sicherheitsarchitektur und im Zusammenhang mit den Abraham-Abkommen. Nach dem Rückzug der USA aus dem Irak im Jahr 2011 entwickelte sich der Iran zu einer Status-quo-Macht in der Region. Doch schon bald sah er sich gezwungen, Syrien, seinen wichtigsten regionalen Verbündeten, inmitten der Aufstände zu verteidigen, die das Land erfassten. Nun haben die regionalen Entwicklungen den Iran erneut in die Rolle einer revisionistischen Macht gedrängt, die nach dem 12-Tage-Krieg deutlich geschwächt ist.

Wie können sich europäische Studierende aus Ihrer Sicht jenseits der Narrative von Mainstream-Medien kritischer mit Themen des Nahen Ostens auseinandersetzen und zu fundierten globalen Debatten beitragen?

Ich habe die Beobachtung gemacht, dass europäische Studierende, die ich aus der Türkei und der Viadrina kenne, sich sehr kritisch mit Nahost-Themen auseinandersetzen. Die Herausforderung liegt in den von vielen Medien und den offiziellen Diskursen präsentierten Erzählungen. Allerdings sind die Studierenden im Allgemeinen besser über die jeweiligen Themen informiert als die Mainstream-Medien.

Marija Momiroska

Zum Studiengang European Studies

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