Was Ostdeutschland bewegt: Steffen Mau über Identität, Frust und demokratische Erneuerung

Frankfurt (Oder), 

Eine ostdeutsche Identität sei zwar in erster Linie nur ein Gefühl, aber es werde stärker: Der Soziologe Prof. Dr. Steffen Mau legte am Dienstagabend im Gespräch mit Viadrina-Rechtshistoriker Prof. Dr. Benjamin Lahusen eine Zustandsbeschreibung der Lebenswirklichkeit in Ostdeutschland dar. Er reflektierte die historischen und aktuellen Gründe für eine breite Verbitterung vieler Menschen in den Neuen Bundesländern und riet, durch Bürgerräte wieder mehr Mitspracherecht und Versachlichung in die aktuellen Debatten zu bringen – auch, um den Rechtsextremen den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Das „hässliche Entlein der Geschichtswissenschaft“ bekomme wieder mehr Aufmerksamkeit, konstatierte Prof. Dr. Benjamin Lahusen gleich zu Beginn des Abends im vollbesetzten Logensaal. Nicht nur gesellschaftlich nehme das Interesse für die DDR-Zeit und für Ostdeutschland zu, sondern auch aus wissenschaftlicher Perspektive an den Universitäten, so der Rechtshistoriker und Gastgeber, dessen Gast erheblichen Anteil an dieser Entwicklung habe. Die Bücher von Prof. Dr. Steffen Mau, Soziologe und so betitelter „Klassensprecher der Ostdeutschen“, landen regelmäßig in der Spiegel-Bestseller-Liste ganz oben. Und nicht, weil sich das Thema gut verkaufe, sondern auch, „weil sie wirklich gut sind“, erklärte Lahusen mit gespielt neidischem Tonfall.

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Im Gespräch mit Mau wird auch schnell deutlich, warum das so sein könnte. Der Wissenschaftler versteht es, prägnant und bildreich zu formulieren und zugleich kenntnisreich zu begründen. Viele der Antworten beginnen mit den Worten „Es gibt dazu eine aktuelle Studie …“, woraufhin Zahlen und Fakten durch den Raum flattern. All das macht das Gesprochene anschaulich und man kommt nicht umhin, zu bestätigen, dass der Titel seines Buches von 2024 „Warum der Osten anders bleibt“ wahr ist.

Benjamin Lahusen gliedert das Gespräch in Geschichte, Gegenwart und Zukunft Ostdeutschlands. Und die Diagnose von Steffen Mau fällt zur leichten Enttäuschung Lahusens selten froh und heiter aus. Dass die Demokratie besonders in den ostdeutschen Bundesländern, in denen das Wählerpotenzial der extremen Rechten bei rund 40 Prozent liege, auf der Kippe stehe, habe vielfältige Gründe. Es gebe ein weit verbreitetes Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen, keine parteipolitische Tradition und aktuell auch einen Hang dazu, auf den eigenen Besitzstand zu beharren. Wer die Erfahrung eines Transformationsturbos erlebt habe, wer wie in einer Waschmaschine durchgespült wurde und nun langsam wieder festen Boden unter den Füßen habe, der sei Veränderungen gegenüber weniger offen. „Und dieses Versprechen gibt es von der AfD – Diversität mitsamt einer offenen Gesellschaft? Nein, danke, und zugleich noch eine ökologische Transformation, für die man Verantwortung übernehmen soll, wird ebenfalls abgelehnt“, erklärte Steffen Mau. Das verfange bei vielen, die in Ostdeutschland aufgewachsen sind oder dort ihre Wurzeln haben.

Die Demographie zeigt weiterhin gravierende Unterschiede

Demographisch seien die Unterschiede zwischen Ost und West weiterhin gravierend. Im Westen sei die Demokratisierung nach dem Zweiten Weltkrieg besonders ab dem Jahr 1955 mit einem erheblichen Zuwachs an Wohlstand vonstatten gegangen. Im Osten fiel die Demokratisierung nach der Wende mit einer gravierenden ökonomischen Krise zusammen. 80 Prozent der Industriearbeitsplätze gingen verloren, 80 Prozent der Familien in den Neuen Bundesländern haben Erfahrung mit Langzeitarbeitslosigkeit gemacht. Entmachtung und Bevormundung durch westliche Eliten war vorherrschend. „Die Ostdeutschen haben sich im überwiegenden Teil anpassen müssen; sie hatten keine Wahl“, so Mau. Auch in der Sprache schlug sich das nachweislich nieder: Sie mussten 3000 bis 4000 neue Wörter aus Westdeutschland in ihren Sprachgebrauch übernehmen; viele der ‚eigenen´ Begriffe verschwanden, da es nicht opportun war, sie zu benutzen.“ In vielerlei Hinsicht ähnelt die Lebensgeschichte von Ostdeutschen denen von Menschen mit Migrationshintergrund. Nur, dass sie nicht ihr Land verließen, sondern ihr Land sie verlassen habe.

Nach der Wende gab es laut Umfragen eigentlich keine Ablehnung der Wiedervereinigung, sondern Kritik am Prozess.

Steffen Mau

Auch die Aufarbeitung der SED-Diktatur ging jedenfalls im öffentlichen Diskurs an den meisten in Ostdeutschland vorbei. „Die Deutungshoheit kam aus dem Westen“, fasste es Mau zusammen. Dem gegenüber etablierten sich oft private Gegenerzählungen in ostdeutschen Familien, was zuweilen zu einer Idealisierung der DDR führe. „Doch nach der Wende gab es laut Umfragen eigentlich keine Ablehnung der Wiedervereinigung, sondern Kritik am Prozess.“ Die Menschen bekamen jedoch damals keine Chance, sich selbst in die Ausgestaltung einzubringen; die Abwicklung der DDR verlief im Autopiloten. „Mit der Treuhand fand eine politische Immunisierung statt, den Forderungen auf den großen Demonstrationen wie etwa von 50.000 Werftarbeiter*innen damals in Rostock schenkte niemand Gehör.“

Bürgerräte als Lösung?

So sei es nicht verwunderlich, dass sich viele Menschen im Osten Deutschlands nicht mit den demokratischen Institutionen oder der zivilgesellschaftlichen Kultur des Westens identifizieren. Doch was tun; gibt es dafür eine Lösung, wollte Benjamin Lahusen von seinem Gast wissen, um dem Abend noch eine positive Wendung zu verleihen. Mau berichtete von Bürgerräten, die zu spezifischen, noch nicht verhandelten Fragen etabliert werden sollten. „Dort, wo wir sie bereits haben, stellen wir eine hohe Legitimation politischer Entscheidungen fest“, erklärte er mit Verweis auf Nordrhein-Westfalen. In Deutschland gebe es bereits rund 300 solcher Foren, die per Los-Entscheid besetzt werden. Sie dienen als Probebühne demokratischer Entscheidungsfindung und man spüre, wie man selbstwirksam werde könne, so Mau.

Auch die Empfehlung aus dem Publikum, dass man gute Sachen aus der DDR-Zeit doch hätte übernehmen können, fand Zustimmung beim Soziologen. Es sei nach der Wende alles „kontaminiert“ gewesen, selbst Ostdeutsche kauften die eigenen Produkte nicht mehr, was auch zum wirtschaftlichen Niedergang beitrug. „Doch einiges kommt durch die Hintertür wieder“, sagte Mau, etwa der Kitaplatz-Anspruch, Polikliniken oder die ökonomische Unabhängigkeit der Frau vom Mann. Dass man sich mit den Ostdeutschen wieder beschäftigen müsse, sei angesichts der wackeligen Demokratie unumgänglich. Denn, diese Identifikation gehe auch nicht weg, stellte Steffen Mau heraus. Die Umfragen zeigen, dass auch unter 25-Jährige das Gruppengefühl „ostdeutsch“ wieder verstärkt für sich in Anspruch nähmen. In Westdeutschland spiele die DDR oder die Herkunft von dort keine so wichtige Rolle, in Ostdeutschland dagegen gebe es ein neues Gefühl der Gemeinschaft. Wohin sich diese nun entwickelt, so zeigte es zumindest der Abend mit Steffen Mau, sei eine Frage, ob man die Forderungen, Wünsche und Erfahrungen höre und ernst nehme.

Heike Stralau

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