„Der Algorithmus regiert nicht“ – Lilo Meier über ihre ethnografische Forschung zu Kurierfahrer*innen

Frankfurt (Oder), 

Die Organisationsforscherin Lilo Meier hat für ihre Dissertation 15 Monate lang die Entstehung einer Plattformgenossenschaft für Kurierfahrer*innen in Berlin begleitet. Sie wollte herausfinden, wie Technologien den Arbeitsalltag von Kurierfahrer*innen prägen. Ein Aufsatz darüber wurde mit dem That’s Interesting Award der European Group for Organizational Studies (EGOS) ausgezeichnet. Im Interview spricht Lilo Meier über die überraschende Autonomie der Rider und darüber, wie es gelingen kann, Arbeitsformen im digitalen Kapitalismus solidarischer zu gestalten.

Lilo Meier, was interessiert Sie an der Arbeit von Kurierfahrer*innen; worum geht es in Ihrer Forschung?

Rider von Firmen wie Lieferando oder Uber sind einerseits sehr sichtbar in den Großstädten; von Berlin über Barcelona bis nach Hongkong prägen sie weltweit das Stadtbild. Gleichzeitig bleiben die Arbeitsbedingungen und die Erfahrungen, die sie auf der Straße machen, oft unsichtbar. Zunächst gab es viel Euphorie über digitale Plattformen. Man ist davon ausgegangen, dass sie unsere Arbeit demokratisieren. Mittlerweile sehen wir das kritischer und wissen, dass viele dieser Versprechen nicht eingelöst werden. Es gibt prekäre Arbeitsverhältnisse, wenig Absicherung, hohen Leistungsdruck, physische Risiken und eine hohe Abhängigkeit von den Plattformen. Davon ausgehend hat mich besonders interessiert: Wie könnte es auch anders gehen? Deswegen habe ich mir eine Plattformgenossenschaft angeschaut, die sich zum Ziel gesetzt hat, Besitz- und Entscheidungsverhältnisse neu zu gestalten, die Rider stärker einzubinden und Mitbestimmung zu ermöglichen.

Sie versuchen also, einen positiven Gegenpol zur vorherrschenden Kritik sichtbar zu machen?

Ja, ich glaube, dass Technologie nicht grundsätzlich zu etwas Schlechtem oder Gutem führen muss. Mich interessiert daher eher, wie wirtschaftliches Handeln im digitalen Kapitalismus anders gestaltet werden kann. Also: Wie kann Technologie genutzt werden, um solidarische und demokratische Interaktionen zu ermöglichen?

elke schuessler und lilo meier

Lilo Meier (rechts) bei der Übergabe des That's Interesting Award mit Prof. Dr. Elke Schüssler, Mitglied des Executive Boards der European Group for Organizational Studies (EGOS)

Warum haben Sie sich methodisch für eine ethnografische Studie entschieden?

Die Betreuerin meiner Doktorarbeit Jana Costas hat schon viel ethnografisch geforscht und mich inspiriert. Das Tolle ist, dass man ein Phänomen nicht nur aus der Distanz anschaut, Umfragen macht, ab und zu mal Interviews führt, sondern dass man über einen langen Zeitraum – ich habe das 15 Monate gemacht – ganz nah am Alltag dran ist. Man taucht in das Feld ein; wir sagen dazu „to immerse oneself in the field“. Es geht darum, zu verstehen, wie Dinge tatsächlich funktionieren, wie Arbeit im Alltag ausgehandelt wird. Ich habe viel Zeit damit verbracht, mir sehr alltägliche Dinge anzuschauen, um daraus dann größere Ideen zu verstehen und zu hinterfragen.

Was genau haben Sie sich bei den Kurierfahrer*innen angeschaut?

Mein Fokus war es, dem Algorithmus an die verschiedenen Berührungspunkte zu folgen, an denen Menschen mit ihm interagieren – von der Bestellung über die Arbeit im Lager und die Route, die dem Rider vorgegeben wird, bis zur Auslieferung.

Dafür bin ich mit den Ridern durch Berlin gefahren und habe Lieferungen zugestellt, habe in Lagerhallen Bestellungen eingepackt und mir den technologischen Entwicklungsprozess angeschaut. Es ging mir darum zu erfahren, wie stark die idealisierten Vorstellungen der Entwickler*innen darüber, wie Technologie wirkt, tatsächlich mit der Praxis übereinstimmen. Wie viel davon ist Idee – und was passiert, wenn Menschen den Algorithmus im Alltag nutzen?

Die Rider sind dem Algorithmus also nicht komplett ausgeliefert?

Es gibt diese Idee, dass alles ganz geradlinig abläuft und glatt funktioniert – wie auf einer Google Maps-Route von A nach B. In der Praxis war ich total überrascht, weil die Dinge eigentlich nie so geklappt haben, wie sie sollten. Da ist eine Box schlecht gepackt, die Joghurtflasche fällt runter und wir müssen das aufwischen und die Box neu packen – das dauert natürlich länger als geplant. Dann gibt es eine Sperrung auf der Straße, oder Kopfsteinpflaster, und die Rider sagen: Nee, wir fahren lieber eine andere Strecke. Es gibt tausend Unwägbarkeiten, die oftmals gar nicht gesehen werden, wenn man an technologisch moderierte Arbeit denkt.

Sorgen diese Unwägbarkeiten nicht einfach nur für Stress, weil die Rider den Vorgaben nicht gerecht werden können?

Einerseits ist es natürlich prekär; es ist anstrengend und es gibt viele Gefahren. Auf der anderen Seite ist es auch ein ganz wichtiger Moment ihrer professionellen Identität. Wenn man nur Anweisungen folgt, jede Mikrobewegung kontrolliert ist und man quasi das Gefühl hat, eigentlich spielen meine Person und mein Wissen gar keine Rolle, dann kann das sehr entfremdend sein. Dann Autonomie zu haben, macht die Rider auch stolz. Wie schnell kann ich fahren? Wie gut kenne ich die Nachbarschaft? Welchen Trick habe ich entwickelt, um etwas möglichst schnell abzuliefern?

Auf dem Fahrrad zu forschen, stelle ich mir nicht leicht vor. Wie haben Sie Ihre Beobachtungen festgehalten?

Ja, diese ethnografische Forschung ist wahnsinnig spannend, macht total viel Spaß und gleichzeitig ist es auch wirklich richtig anstrengend. Während ich durch die Stadt fuhr, nahm ich kurze Sprachnotizen auf. Die eigentliche Arbeit begann jedoch erst zu Hause: erschöpft vom Tag, saß ich oft noch stundenlang da und schrieb meine Feldnotizen.

Was sind die zentralen Erkenntnisse Ihrer Arbeit?

Für mich war am interessantesten, dass der Algorithmus nicht im klassischen Sinne regiert. Er trifft nie Entscheidungen allein, sondern er schafft Kontexte, in denen Verantwortung verschoben wird – oft auf die Fahrer*innen.
Der zweite zentrale Punkt: Es ist nicht so einfach, ein technologisches Modell, das in so einem profitorientierten und oft prekären Kontext entstanden ist, in einen fairen oder solidarischen Rahmen zu übertragen.

Sie schreiben über die Kurierfahrer*innen, die sich über eine Plattformgenossenschaft bessere Arbeitsbedingungen schaffen – eine bisher eher kleine Gruppe. Was lässt sich für den größeren Kontext daraus ableiten?

Den Fahrer*innen, die ich begleitet habe, ist es bewusst, dass sie sich eine kleine Enklave im Kapitalismus gebaut haben, in der sie mehr Autonomie und Freiheit haben als die meisten anderen. Trotz dieser sichtbaren Grenze möchte ich zeigen, dass es wichtig ist auszuprobieren, wie Dinge anders funktionieren können. Nur so entstehen Alternativen und Veränderungen.

Wir können nicht nur meckern, dass die Bedingungen nicht gut sind für die Arbeitenden. Ich plädiere dafür, auch Utopien zu haben darüber, wie es besser funktionieren kann. Ich merke dieses Bedürfnis auch in der Lehre. Die Studierenden fragen: Wie können wir Dinge verändern? Wie können wir mit den Krisen umgehen? Auch wenn eine Idee scheitert – die Organisation, die ich untersucht habe, gibt es zum Beispiel in dieser Form nicht mehr –, geht es darum, immer wieder Neues auszuprobieren.

Inwieweit spielt Ihre Forschung auch in der Lehre eine Rolle?

Ich habe unter anderem ein Seminar über die „Algorithmische Gesellschaft“ mitkonzipiert. Es geht darum, wie Algorithmen Arbeit und Organisationen verändern, also um das Verhältnis zwischen Mensch, Technologie und gesellschaftlicher Ordnung. Vor allen Dingen geht es mir in der Lehre darum, den Studierenden die Angst vor Technologie zu nehmen. In öffentlichen Debatten wird immer das Bild gezeichnet, dass uns autonome Maschinen überrennen, unsere Arbeitsplätze wegnehmen oder über uns herrschen werden. Im Seminar und in meiner Dissertation arbeite ich gegen diesen technologischen Determinismus an. Ich möchte mit den Studierenden solche Thesen hinterfragen und zeigen, dass technologische Entwicklungen immer in gesellschaftliche Verhältnisse eingebettet sind. Es sind Menschen, Organisationen und Machtverhältnisse, die prägen, wie Technologien aussehen.

Zur Person

Lilo Meier ist seit 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Personal, Arbeit und Management bei Prof. Dr. Jana Costas. Zuvor hat sie an der HHL Leipzig Graduate School of Management am Lehrstuhl für Marketingmanagement und Nachhaltigkeit gearbeitet.

Ihr Studium hat Lilo Meier an der Viadrina (Bachelor International Business Administration) und der Technischen Universität Berlin (Master Innovation Management, Entrepreneurship and Sustainability) absolviert.

Frauke Adesiyan

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