„Das Lesen der Welt üben“ – Studierende und Weggefährt*innen gratulieren Karl Schlögel
Am Sonntag, dem 19. Oktober 2025, erhält Prof. Dr. Karl Schlögel in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Der Osteuropa-Historiker, der von 1994 bis 2013 Professor an der Viadrina war, habe „unseren Blick auf die Ukraine geschärft und sich aufrichtig mit den blinden Flecken der deutschen Wahrnehmung auseinandergesetzt“, begründet die Jury seine Wahl. Frühere Studierende und Weggefährt*innen von der Viadrina schildern hier ihren Blick auf die Arbeit von und mit Karl Schlögel und wie er ihr Denken beeinflusste.
PD Dr. Paulina Gulińska-Jurgiel, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Neuere und Neueste Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, von 1998 bis 2004 Studentin der Kulturwissenschaften, studentische Hilfskraft von Karl Schlögel
Die erste Begegnung:
Karl Schlögel lernte ich im Wintersemester 1999/2000 kennen, als ich sein Seminar „Das Shtetl. Jüdische Lebenswelten in Osteuropa“ besuchte. Seitdem wurde seine Lehre zum festen Bestandteil meines Studiums. Sie war beides zugleich: herausfordernd und inspirierend. Sie erforderte ein hohes Maß an Konzentration und kontinuierlicher Fokussierung, sonst war es unmöglich Schritt zu halten. Die Belohnung waren Einblicke in Dimensionen der Geschichtswissenschaft, deren Existenz ich früher nicht mal ahnte.
Die beeindruckendste Erfahrung:
Für Karl Schlögel war die Geschichte ohne Raumbezug nicht zu denken. Deswegen hat er uns Student*innen immer wieder an die Orte mitgenommen, über die er lehrte. Nach dem Seminar zum Shtetl gingen wir nach Ostpolen, um dort die Spuren des vergangenen jüdischen Lebens aufzusuchen. Das Seminar zur Geschichte des Gulag führte uns auf die entlegenen Inseln Solovki im Weißen Meer. Auf diese Weise konnten wir das aus der Lektüre gewonnene Wissen mit den Befunden vor Ort konfrontieren und so das Lesen der Welt üben.
Diese Denk- und Arbeitsweise von Schlögel hat mich geprägt:
Karl Schlögel verdanke ich die meisten wissenschaftlichen Inspirationen in meinem Leben, auch die Tatsache, dass Erforschen und Lehren der osteuropäischen Geschichte zu meinem Beruf wurden. Vor allem aber verdanke ich ihm die feste Überzeugung, dass Wissenschaft mit Ernsthaftigkeit und Verantwortung zu tun hat.
Warum hat Karl Schlögel den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verdient?
Karl Schlögel weiß, dass der Frieden nicht nur Worte, sondern auch Taten braucht und er beweist es mit seinem Leben.
Prof. Dr. Felix Ackermann, Professur für Public History an der Fernuniversität in Hagen, bis 2008 Student und Mitarbeiter von Karl Schlögel an der Viadrina
Die erste Begegnung:
Karl Schlögel hielt 1999 eine Vorlesung über Polen als Phönix aus der Asche, der ich aufmerksam lauschte.
Die beeindruckendste Erfahrung:
Wir waren gemeinsam mit Karl Schlögel und Gabor Rittersporn auf der Insel Solovki im Weißmeer. Die Exkursion als Lehrmethode verwende ich bis heute.
Diese Denk- und Arbeitsweise von Schlögel hat mich geprägt:
Die wichtigste Botschaft für mich war, meiner eigenen Intuition zu vertrauen und die Welt mit Neugierde zu betrachten.
Warum hat Karl Schlögel den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verdient?
Karl Schlögel war 2014 einer der wenigen Osteuropa-Historiker, die in die Ukraine gefahren sind und ihren eigenen Blick geschärft haben.
PD Dr. Agnieszka Pufelska, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Nordost-Institut der Universität Hamburg, Studium und Dissertation (2005) an der Viadrina
Die erste Begegnung:
Das war 1997 in einem kleinen Seminar zur Russischen Revolution an der Viadrina. Wir waren nur eine Handvoll Studierende, noch unsicher und tastend am Anfang. Er nahm keinerlei Rücksicht auf diese Unreife. Es gab keine vereinfachenden Erklärungen, kein vorsichtiges Heranführen, sondern die unmittelbare Konfrontation mit einem Denken, das zugleich messerscharf und von leiser Intensität getragen war. Diese erste Begegnung war kein Moment des Verstehens, sondern der Beginn eines Aufbruchs in eine unbekannte intellektuelle Welt.
Das Beeindruckendste an Karl Schlögels Arbeit:
Schlögels Denken zu begegnen, bedeutete, in eine Schule der Aufmerksamkeit einzutreten. Er forderte nicht bloß Wissen, sondern eine Haltung: die Bereitschaft, Raum, Zeit und Topographie der Geschichte ernst zu nehmen. Karl Schlögel ist ein Seismograph, der die Landschaften des 20. Jahrhunderts abzutasten weiß – Städte, Bahnhöfe, Straßen, Gerüche – und aus ihnen eine Erzählung formt, die zugleich konkret und universal ist. Mich prägte besonders seine Weigerung, Abkürzungen zuzulassen. Ein Seminar bei ihm war nie ein bequemer Durchgang durch Lehrbuchwissen, sondern ein intellektuelles Abenteuer, ein Hineingestoßenwerden in die Verästelungen der Geschichte. Ich verließ solche Sitzungen mit dem Gefühl, dass es nicht genügt, einfach „nur“ Historikerin zu sein. Ich musste zugleich Leserin, Reisende, Beobachterin werden.
Diese Denk- und Arbeitsweise von Schlögel hat mich geprägt:
Karl Schlögel hat mir gezeigt, was es heißt, mit wachem Blick zu forschen. Nicht aus der Distanz akademischer Routinen, nicht im Schutz institutioneller Verfahren, sondern dort, wo Geschichte atmet, wo Räume sprechen und Zeit sich verdichtet. Durch ihn habe ich verstanden, dass Wissenschaft nicht im Sitzungssaal beginnt, sondern im Gehen, im Sehen, im Schreiben. Er hat entscheidend dazu beigetragen, dass ich bis heute mit Stolz auf meine Studienzeit zurückblicke. Die Viadrina war damals mehr als eine Universität. Sie war ein Schiff des intellektuellen Aufbruchs, und Schlögel war der Wind, der dieses Schiff vorantrieb.
Warum hat Karl Schlögel den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verdient?
Weil er wie kein anderer sieht, was lange übersehen wurde, und weil er mit geduldiger Genauigkeit und poetischer Kraft das östliche Europa für jene lesbar macht, die zuvor wegblickten.
Prof. Dr. Timm Beichelt, seit 2003 Juniorprofessor, seit 2009 Professor für Europa-Studien an der Viadrina
Die erste Begegnung:
1989 fand ich in einem Antiquariat sein Buch „Moskau lesen“, in dem unter anderem einiges über Antiquariate im damaligen Moskau zu lesen ist. Ich befand mich in der Phase der Studienwahl; das Buch markierte eine Station auf dem Weg zum Slawistikstudium in Heidelberg. Dort wollte man allerdings von Büchern, die nach 1920 geschrieben wurden, nichts wissen. Also spazierte ich weiter in die Politikwissenschaft, die mich später nach Frankfurt (Oder) brachte. Mittlerweile hatte Karl Schlögel auch hier vorgesorgt und ein Buch über die Eisenbahn zwischen Berlin und dem östlichen Europa geschrieben. Im Regionalexpress hatte ich die Zeit, es zu lesen.
Das Beeindruckendste an Karl Schlögels Arbeit:
Beeindruckt hat mich sein Vermögen, aus wenigen Beobachtungen eine ganze Welt entstehen zu lassen. Hier gab es jemanden, der einem selbst voraus war, wenngleich seine Methoden mitunter undurchsichtig waren. Auch ich schrieb ja über Russland und Osteuropa, genauer über die dortige Politik. Eines Tages nahm Karl Schlögel mich zur Seite und informierte mich, dass man all meine Erkenntnisse auch gewinnen könne, wenn man einfach mit dem Schlafwagen durch Osteuropa führe und sich anhöre, worüber sich die Mitreisenden unterhalten. Damals fuhren noch Züge zwischen Frankfurt (Oder) und Moskau.
Diese Denk- und Arbeitsweise von Schlögel hat mich geprägt:
Das Bemühen, sich unterschiedlichen Gegenständen in einer jeweils angemessenen Form zu nähern. Sein Buch über Moskau 1937 beginnt mit einem teuflischen Flug über die Stadt, angelehnt an Bulgakows Meister und Margarita. Die Flügel des Kapitels tragen den ganzen Terror und Traum jenes Jahres, eigentlich des gesamten Stalinismus´.
Warum hat Karl Schlögel den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verdient?
Weil er sich in einer erstaunlichen Zahl von Büchern und sonstigen Äußerungen der Frage stellt, wie sich dem Terror zwischen 1914 und 1945 vorbauen lässt – mit Neugier und Sinn für ein ziviles Miteinander in Europa.
Dr. Magdalena Abraham-Diefenbach, Vorstandsvorsitzende vom Institut für angewandte Geschichte
Die erste Begegnung:
Nach Frankfurt (Oder) kam ich 2006 nach meinem Studium der Philosophie und Soziologie in Toruń. Ich lernte das Institut für angewandte Geschichte kennen und durch diese Gruppe gelangte ich zu einem Vortrag von Karl Schlögel an der Viadrina. Ich erinnere mich, dass Schlögel mit großer Leidenschaft und Emphase von den Warteschlangen vor Telefonzellen erzählte – wenn man in den 1970er oder 1980er Jahren in der Sowjetunion war und nach Deutschland telefonieren wollte. Ich erinnere mich an meinen Schock: ein Professor, der von Telefonzellen und Warteschlangen erzählt; und an meine Rührung. Er sprach über meine Kindheit im Polen der 1980er-Jahre in der Sprache eines unerreichbaren, ersehnten Paradieses, das nach echter Schokolade und Badezusatz roch.
Schlögel erklärte mir dieses Gefühl des Eingeschlossenseins, das meine Kindheit geprägt hatte – die Hälfte der Familie, die man nicht besuchen konnte, die Pakete schickte, Geschichten, über die man nicht sprechen durfte. Karl Schlögel konnte nicht nur das Europa des 20. Jahrhunderts erklären, sondern auch die tiefsten Spannungen und Emotionen.
Diese Denk- und Arbeitsweise von Schlögel hat mich geprägt:
An Karl Schlögel schätze ich am meisten seine Akzeptanz des Emotionalen. Zeitgeschichtler arbeiten mit einer Geschichte, die sie zum Teil selbst erlebt haben, zu der sie eine emotionale Beziehung haben und die sie zum Leben erwecken. Sie sind auch Zeitzeugen. Diesen Aspekt in die eigene Arbeit einzubeziehen, über die eigenen Handlungsmotive zu reflektieren, scheint mir in meinem Fall unter dem Einfluss der Begegnungen mit Karl Schlögel geschehen zu sein.
Er ist in der Lage, aus Berliner und New Yorker Sicht unsere Grenzregion-Perspektive zu sehen und unterstützt das Institut für angewandte Geschichte, wofür ich ihm dankbar bin. Und dank ihm sehe ich in der ukrainischen Verkäuferin im Fleischladen in Słubice die Geschichte der Hälfte Europas und frage mich, ob ihre Großeltern und ihre deutschen Kunden sich vielleicht schon einmal im Kampf entlang der Oder oder in der Schlacht um Berlin begegnet sind – und dass wir Räume brauchen, um uns diese Geschichten zu erzählen.
Prof. Dr. Claudia Weber, seit 2014 Professorin für Europäische Zeitgeschichte an der Viadrina
Das Besondere an Karl Schlögels Arbeit:
Beeindruckt hat mich die ruhige und wohlüberlegte Art, Gedanken zu formulieren, immer um Klarheit und Präzision ringend.
Diese Denk- und Arbeitsweise von Schlögel hat mich geprägt:
Ich versuche, Geschichte lebendig und in der ganzen Komplexität zu erzählen.
Warum hat Karl Schlögel den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verdient?
Weil er die Geschichte in der Gegenwart sieht.
Frauke Adesiyan
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