„Warum sollte man etwas für ein Museum stehlen?“ – Studierende besuchen die Ausstellung „Dekoloniale – Was bleibt?“
Norah El Gammal und PD Dr. Andrea Gremels besuchten am 3. Juni 2025 mit Studierenden aus zwei ihrer Seminare die Ausstellung „Dekoloniale – Was bleibt?“ im Stadtmuseum Nikolaikirche in Berlin. Dort beschäftigten sie sich mit Fragen der deutschen Kolonialgeschichte, dem kollektiven Gedächtnis und Möglichkeiten, diese Themen in einer Ausstellung aufzubereiten.
Die aktuelle Dekoloniale-Ausstellung in der Nikolaikirche fokussiert die Verwicklungen Berlins in den Kolonialismus und die transatlantische Versklavungsgeschichte. Thematisch passt sie damit zu zwei Seminaren, die aktuell an der Viadrina gegeben werden: „Life Writing aus der Karibik“ und „Trauma: Postkoloniale und postfaschistische Erinnerungskulturen“. Durch die Exkursion erhielten die Studierenden Einblicke, wie das kollektive Gedächtnis der Kolonialgeschichte im deutschsprachigen Raum in kultureller und kuratorischer Praxis verhandelt wird.
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Die Studierenden zeigten sich dabei von verschiedenen Aspekten der Ausstellung beeindruckt. Monika Godzik interessierte sich vor allem für die dort erzählten Geschichten von Personen der deutschen Kolonialgeschichte, die bisher selten erzählt werden. „Außerdem hat mir die Idee des ghanaischen Künstlers Percy Nii Nortey sehr gefallen, die Kirchenfenster mit Textilmaterial zu bedecken. Es sah wie Glas aus, jedoch erzählte das Material die Geschichte afrikanischer Arbeiter*innen. Die Materialien wurden von Menschen bei der Arbeit genutzt, um später gesammelt und zu großen Leinwänden verbunden zu werden, die jetzt die Kirchenfenster des Stadtmuseums Nikolaikirche bedecken“, berichtet sie nach dem Besuch. Auch die Entscheidung der Kurator*innen, Platzhalter statt konkreter Objekte zu zeigen, beeindruckte sie. „Warum sollte man etwas für ein Museum oder ein anderes Land stehlen?“
Das Zusammendenken von Kolonial- und Stadtgeschichte betont Viktoria Siekert beim Rückblick auf die Exkursion: „Die Entscheidung, diese Ausstellung an dem Ort zu machen, wo viele einflussreiche deutsche Personen beerdigt wurden und ihre Erzählungen dort mit ihren kolonialen Handlungen zu konfrontieren, fand ich faszinierend. Besonders die künstlerischen Werke der Ausstellung haben großen Eindruck bei mir hinterlassen. Sie reflektieren und visualisieren die kolonialen Auswirkungen auf die heutige Welt.“
Im Anschluss an eine einstündige Führung durch das Museum diskutierten die Studierenden und ihre Seminarleiterinnen in einem Seminarraum im Ephraim-Palais ihre Eindrücke von der Ausstellung. Für dieses Nachgespräch bezogen sie den Aufsatz „Das Stadtmuseum Berlin dekolonisieren? Überlegungen, Prozesse, Praktiken, Perspektiven“ der Autor*innen der „Dekoloniale“-Initiative, Ibou Diop, Frauke Miero und Lorraine Bluche, ein. Der Text ist jüngst im Buch „Berlins Weg in die Moderne“ erschienen, das von Samuel Eleazar Wendt, Felix Töppel, Lilja-Ruben Vowe und Klaus Weber herausgegeben wurde.
Durch die Zusammenlegung der zwei Seminare vom Bachelorstudiengang Kulturwissenschaften und dem Masterstudiengang Ästhetik – Literatur – Philosophie, die von der Professur Westeuropäische Literaturen angeboten werden, hatten die Studierenden die Gelegenheit, sich studiengangsübergreifend kennenzulernen. Im Seminar „Life Writing aus der Karibik“ untersucht Norah El Gammal die Potenziale und Schwierigkeiten der Darstellung von individuellen Autobiografien im Kontext der transatlantischen Gewaltgeschichte, der Versklavung sowie die damit verbundenen erinnerungspolitischen Implikationen.
Das Seminar von Andrea Gremels befragt literarische Darstellungen von Traumata in postkolonialer und postfaschistischer Literatur nach Themen und Aspekten von Unsagbarkeit, Dissoziation, Verdrängung und Brüchen. Die Exkursion diente dazu, den Dialog zwischen Seminarinhalten und Ausstellungspraxis zu fördern und den Teilnehmenden neue Perspektiven auf ihr Studium der Kultur- und Literaturwissenschaft zu eröffnen.
Zu den Dozentinnen
Andrea Gremels ist aktuell als Vertretungsprofessorin am Lehrstuhl Westeuropäische Literaturen an der Viadrina tätig und forscht zu transkulturellen Studien, postkolonialer Theorie und internationalen Netzwerken in der französisch- und spanischsprachigen Literatur- und Kulturwissenschaft mit einem besonderen Fokus auf die Karibik und den internationalen Surrealismus.
Norah El Gammal ist akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl und schreibt ihre Doktorarbeit im Bereich Karibik, Life Writing und Archiv-Forschung.
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