„Wir sollten an Gerechtigkeit glauben“ – Anna Adamska-Gallant über ihre Arbeit am Europäischen Menschengerichtshof
Knapp 50 Studierende aus Nepal, Senegal, Argentinien, Kroatien und vielen weiteren Ländern beschäftigen sich an der Viadrina derzeit mit dem Schutz der Menschenrechte in Europa. Bei der zweiwöchigen Sommerschule „The European System of Human Rights Protection“ lernen sie von internationalen Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis. Am 11. Juli 2025 berichtete die polnische Juristin Anna Adamska-Gallant von ihrer Arbeit als Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Aus der Sicht von Anna Adamska-Gallant hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in der Woche ihres Besuchs an der Viadrina Geschichte geschrieben: Zum ersten Mal hat er Russland wegen systematischer Menschenrechtsverstöße in seinem Krieg gegen die Ukraine verurteilt. „Das ist ein historisches Urteil. Man könnte argumentieren, dass das Gericht hier sehr harte Formulierungen gewählt hat, aber alles ist durch Beweise belegt“, erklärte die polnische Juristin den Teilnehmenden der Sommerschule die Tragweite des Urteils.
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Der EGMR habe aufgrund der mangelnden Beteiligung Russlands am Verfahren gearbeitet, wie es sonst der Internationale Strafgerichtshof tue, und die Verantwortung Russlands für Menschenrechtsverstöße detailliert belegt. Das Ergebnis: Das europäische Gericht sieht Verstöße unter anderem gegen das Recht auf Leben, das Folterverbot und den Schutz des Familienlebens. Die Richter*innen rügen wahllose militärische Angriffe, Hinrichtungen von Zivilist*innen und ukrainischen Militärangehörigen, Folter und Vertreibung, aber auch die Unterdrückung der ukrainischen Sprache in den Schulen. Anna Adamska-Gallant räumte ein, dass das Urteil für Russland zunächst keine Konsequenzen habe. „Aber es ist sehr wichtig für die Opfer, gehört zu werden und zu sehen, dass ein internationales Gericht ihre Rechte vertritt, auch wenn Russland nicht darauf reagiert“, argumentierte sie. Kein anderes Gericht könne Russland verantwortlich machen. „Gerechtigkeit braucht Zeit“, sagte sie eindringlich und erinnerte an die Verfolgung der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg oder der Gräuel im Jugoslawienkrieg, die mitunter Jahrzehnte später behandelt wurden. „Wir sollten an Gerechtigkeit und Menschenrechte glauben“, so ihr Appell.
Im Vorfeld des Vortrags hatte Prof. Dr. Carmen Thiele, die die Sommerschule organisiert und die hochkarätigen Gastredner*innen eingeladen hat, den Teilnehmenden eingeschärft: „Stellen Sie Fragen, die Gelegenheit kommt nicht so schnell wieder!“ Und das taten sie. Sie fragten unter anderem nach dem Arbeitsalltag der Richterin, nach den Grenzen von nationaler und europäischer Rechtsprechung und nach den Herausforderungen der internationalen juristischen Arbeit. Anna Adamska-Gallant erzählte, dass sie als Richterin in Polen gewohnt war, Urteile allein zu fällen. „Als einzige Richterin besteht natürlich das Risiko zu denken, man habe immer Recht“, sagte sie lächelnd. Die Arbeit als Richterin der EU-Rechtsstaatlichkeitsmission im Kosovo ab 2013 beschrieb sie rückblickend als „augenöffnende Erfahrung“. „Mit vielen anderen internationalen Jurist*innen lernt man, dass es so viele verschiedene aber berechtigte Perspektiven gibt, und dass die eigene nicht immer die brillanteste Idee ist. Das hat mich Offenheit gelehrt und Bescheidenheit“, sagte sie. Im gleichen Atemzug riet sie den Teilnehmenden der Sommerschule, aus solchen internationalen Begegnungen wie der an der Viadrina, möglichst viel mitzunehmen. „Diese Möglichkeit, sich mit internationalen Kolleg*innen auszutauschen, kann Sie nur bereichern“, ist sie überzeugt.
Diesen Austausch pflegen die Studierenden – 15 von der Viadrina und doppelt so viele aus knapp 20 verschiedenen Ländern – intensiv in den gemeinsamen Kursen und bei der Vorbereitung eines Moot Courts – ein simuliertes Verfahren am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, mit dem die Sommerschule am 19. Juli endet.
Frauke Adesiyan
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