„Sie haben gar kein Recht, pessimistisch zu sein!“ – Gregor Gysi motiviert Jura-Studierende mit Ratschlägen für ihre Zukunft

Frankfurt (Oder), 

Bevor Gregor Gysi am Donnerstagabend erzählen konnte, warum er eigentlich Jurist geworden war und mit 23 Jahren begonnen hatte, als Rechtsanwalt in einem autoritären System zu arbeiten, war Muskelkraft nötig. Gastgeber Prof. Dr. Benjamin Lahusen samt Sessel, Team und Publikum mussten vom Logenhaus ins Gräfin-Dönhoff-Gebäude umziehen, da die vorgesehenen 160 Stühle nicht ausreichten. Im Hörsaal 1 fanden schließlich alle Interessierten – von der Frankfurter Seniorin bis zum Jura-Studenten – Platz und trafen auf den gutgelaunten Protagonisten des Abends zum Thema ostdeutsche Rechtshistorie vor und nach der Wende.

Warum studiert man Jura? Eine Frage, die auch Benjamin Lahusen umtreibt, wenn er seine eigenen Studierenden betrachtet. Geld verdienen? Strenge Eltern? Keine Ahnung, was sonst? „Die Gründe sind sehr vielfältig“, erzählte Lahusen. Für Dr. Gregor Gysi galt: „Ich wusste nicht, was ich werden wollte.“ Gesetze auswendig lernen wollte er nicht und Jura war doch „ein Studium für Doofe“, zählte er die damals verbreiteten Gerüchte auf.

Gregor Gysi und Benjamin Lahusen im Hörsaal der Viadrina

Für Gysi waren die persönlichen Vorbilder entscheidend: zwei Väter von Mitschüler*innen (einer von ihnen der Rechtsanwalt und Kommunist Friedrich Wolff, der nach der Wiedervereinigung auch Erich Honecker verteidigte) waren Rechtsanwälte. Statistisch sei das erstaunlich gewesen, denn in der DDR gab es nur etwa 600 Rechtsanwälte. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik Deutschland waren es mehr als 55.000. „Okay, also studierte ich Jura – und da ich keine Ahnung davon hatte, war ich fleißig.“

Jedoch Jura zu studieren, um Rechtsanwalt zu werden, das hätte man laut Gysi damals nicht sagen dürfen. „Das wäre mein Aus gewesen“, berichtete er. Schließlich erzählte er der amüsierten Zuhörerschaft Anekdoten aus seiner Studienzeit und wie er es geschafft hatte, zu promovieren, obwohl er sich häufiger mit Lehrenden und Oberen angelegt und gestritten hatte.

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Doch wie kam die DDR mit so wenigen Rechtsanwälten aus, deren Kanzleien sich im Grunde in einer einzigen Straße in Berlin aneinanderreihten? Vorgeschaltete Konfliktkommissionen und Schiedsgerichte auf lokaler Ebene fingen ein Großteil von Auseinandersetzungen zwischen den Menschen ab. „Nicht jeder Mist kam zur staatlichen Justiz“, erinnerte sich der 77-Jährige. Auch habe die DDR ein „Gefühl für Bagatellen“ gehabt, so sei das Schwarzfahren oder das Stehlen geringwertiger Dinge keine Straftat gewesen. Dennoch ließ Gysi keinen Zweifel daran, dass das repressive System etwa im politischen Strafrecht keine Gerechtigkeit walten ließ. „Der Antrag des Staatsanwaltes hatte in diesem Bereich damals immer Erfolg.“ Er selbst habe innerhalb des Staatsapparates als „Pingel“ gegolten. „Weil ich die Gesetze sehr genau gelesen habe – das war ja nicht verboten“, freute er sich rückblickend. Der Trick als Jurist sei, einerseits die Sprache der Gesetze zu beherrschen, sie dann aber auch übersetzen zu können, damit sie jede*r verstehe.

„Ich will auch heute noch den Zeitgeist verändern.“

Gregor Gysi

Die Wendezeit, also der Übergang vom sozialistischen Rechtssystem der DDR zum demokratischen Rechtsstaat der Bundesrepublik, forderte auch von Gregor Gysi Anpassung. Der Einzug in den Bundestag als Vorsitzender der PDS, der Nachfolgepartei der SED, sei für viele Politiker*innen eine Zumutung gewesen. „Die CDU konnte uns nicht leiden, aber die SPD hasste uns“, erzählte er. Doch auch wenn er in den Folgejahren auf Bundesebene keine Gesetze ändern konnte, weil die PDS, später die Linke, nie Teil der Regierung war, gelang ihm doch etwas anderes: „Ich will auch heute noch den Zeitgeist verändern“, sagte er und verwies auf das Beispiel Mindestlohn. Damals sei so etwas fast undenkbar gewesen, doch nun gebe es einen.

Lahusen wollte von seinem Gesprächspartner als nun dienstältestem Politiker im Bundestag und als Jurist wissen, wie er auf die aktuelle Weltlage blicke. „Das Völkerrecht wird nach Beliebigkeit angewendet. Sind wir noch zu retten? Und wenn ja, was sollen wir tun?“, fragte der Rechtsprofessor. Gysi antwortete auf diese Fragen mit einem Appell an die Studierenden: „Sie sind jung, Sie haben gar kein Recht, pessimistisch zu sein! Sie müssen jetzt loslegen und erst einmal ranklotzen, denn Sie können die Welt noch verändern.“ Das Jura-Studium sei eine sehr gute und vernünftige Wahl, erklärte er, man müsse es aber durchziehen und unbedingt auch das zweite Staatsexamen machen. Es sei zwar schwieriger als zu seiner Zeit, gab Gysi zu, aber Jura eröffne alle Möglichkeiten. Mit Verweis auf die aktuellen Auflösungserscheinungen von Demokratien, die Macht der US-Eliten und deren Kampf gegen Gerichte und Parlamente, riet er dem juristischen Nachwuchs im vollbesetzten Vorlesungssaal: „Wir müssen uns wehren. Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit – Sie müssen verinnerlichen, wie wichtig das ist.“

Heike Stralau

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