Zum Doktortitel im Exil – Kyjiwer Literaturwissenschaftlerin Dr. Tetiana Kalytenko über ihre Promotion auf Umwegen

Dr. Tetiana Kalytenko kam im März 2022 als Fellow des Projektes European Times (EUTIM) an die Viadrina. Die Literaturwissenschaftlerin aus Kyjiw wollte drei Monate bleiben, daraus wurden anderthalb Jahre. Ende Juni 2023 hat sie ihre Doktorarbeit verteidigt. Über ihren Alltag zwischen Forschung, Arbeit und der Dokumentation des Krieges in ihrer Heimat erzählt sie hier.

Am 28. Juni steht Tetiana Kalytenko im Mittelpunkt einer besonderen Zoom-Konferenz. Es ist die Verteidigung ihrer Doktorarbeit, die sie eigentlich schon viele Monate vorher an der Kyjiw-Mohyla-Akademie geplant hatte. Nun sitzt sie im Exil in Słubice, die Prüfungskommission in Kyjiw, ihr Betreuer Dr. Oleksandr Pronkevich in Lwiw. „Ich habe das wirklich genossen; es war für mich ein Tag voller Frieden und Ruhe. Es war mein Tag, der Tag des Multiversums.“ Tetiana Kalytenko sagt solche Sätze, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie ist nicht nur Literaturwissenschaftlerin, sie ist auch Schriftstellerin, Literaturkritikerin und Comic-Liebhaberin. In ihrer Dissertation vereint sie ihre verschiedenen Leidenschaften und untersucht Prinzipien, nach denen fiktionale Multiversen entstehen – also parallele Welten –, anhand von Literaturbeispielen vom Mittelalter bis zur Gegenwart.

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Als ihr Viadrina-Mitarbeiterin Claudia Dathe im Februar 2022 aufgrund des russischen Angriffs auf die gesamte Ukraine anbot, ihr Fellowship an der Europa-Universität vorfristig zu starten, hatte Tetiana Kalytenko ihre Doktorarbeit eigentlich fertig und wartete nur auf die Verteidigung. Hinter ihr lagen schon Jahre des Verzugs und der Hindernisse durch die Corona-Pandemie. Kurzentschlossen fuhr sie mit ihrer Mutter gen Westen – für drei Monate, wie sie dachte. Doch schnell wurde klar, dass eine baldige Rückkehr nicht möglich ist. Dank eines einjährigen Stipendiums der Volkswagen-Stiftung wurden der Aufenthalt und die Arbeit der ukrainischen Wissenschaftlerin für ein Jahr gefördert. Tetiana Kalytenko nutzte die Zeit für Recherchen in Bibliotheken und Präsentationen ihrer Arbeit. Die Dissertation habe dadurch an neuer Tiefe und Breite gewonnen, schaut sie zurück. Sie habe mit verschiedenen neuen Perspektiven experimentiert und ihr eigentliches Forschungsinteresse neu gefunden. Entstanden sei eine Arbeit, die perfekt sei angesichts der Umstände ihrer Entstehung. „Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich in einer ruhigen Atmosphäre arbeiten konnte, dass ich schlafen konnte. Das wäre in Kyjiw nicht möglich gewesen“, sagt Tetiana Kalytenko. Nach dem Auslaufen des einjährigen VW-Stipendiums bleibt sie als Angestellte im Rahmen des EUTIM-Projektes noch bis September dieses Jahres an der Viadrina.

Was dann kommt, ist ungewiss. „Ich habe durch den Krieg gelernt, dass sich alles jede Sekunde ändern kann“, sagt die frisch promovierte Forscherin. Sie plane nicht mehr, wo sie sein oder an welcher Institution sie arbeiten wird. „Alle Pläne, die ich jetzt mache, hängen nur von mir ab, von meinen Fähigkeiten und meinem Willen“, sagt sie. Und es gibt genug Projekte, an denen sie arbeitet. Nach der Verteidigung gönnte sie sich nur eine ganz kurze Pause, ging mit Kolleginnen Kaffee trinken, genehmigte sich einen Aperol Spritz – ein Bild davon postete sie zusammen mit ihrer Dissertationsurkunde bei Facebook – und widmet sich seitdem den nächsten Aufgaben. Einen ganzen Roman – es wäre ihr zweiter – habe sie im Kopf. Zusätzlich bearbeitet sie eine große Sammlung von Alltagserlebnissen ihrer Landsleute im Krieg. „Die Idee dazu stammt von meiner Flucht aus Kyjiw“, schaut sie zurück. Damals habe sie eine ältere Frau und deren Tochter kennengelernt. „Sie kam aus Butscha und hat uns die ganze Zeit von ihrem Alltag erzählt, vom Wassermangel, vom Kochen …“ Kaum in Słubice angekommen, wusste Tetiana Kalytenko, dass sie genau solche Berichte von den Alltagsroutinen ukrainischer Zivilistinnen und Zivilisten sammeln möchte: Wie putzen sie sich die Zähne, was essen sie angesichts des Mangels, wie schlafen sie? Bisher hat sie auf diese Weise den Kriegsausbruch dokumentiert und die Wintermonate mit den Stromausfällen. „Man kann solche Alltagsbeobachtungen für überflüssig halten, aber sie sind Teil des großen Bildes“, sagt sie. Und schiebt hinterher: „Alle reden über die Tragödien und niemand über die Routinen.“

„Nach dem Sieg“, wie sie es formuliert, möchte Tetiana Kalytenko diese Erfahrungen als Buch veröffentlichen. Dann will sie auch mit ihren Freundinnen und Freunden in Kyjiw ihre Dissertation feiern. Diesen Plan erlaubt sie sich.

Text: Frauke Adesiyan
Foto: Heide Fest

 

Abteilung für Hochschul­kommunikation