Forschen unter Bedingungen des Krieges - Prof. Dr. Oksana Mikheieva zwischen wissenschaftlicher Neutralität und emotionaler Beteiligung

Prof. Dr. Oksana Mikheieva aus der Ukraine arbeitet mittlerweile seit drei Jahren als Gastdozentin an der Viadrina – geplant waren zwei Semester. Doch die Ausweitung des russischen Angriffskrieges auf die gesamte Ukraine hat ihre Pläne durchkreuzt. Ungeachtet dessen forscht die Soziologin, die 2014 selbst aus ihrer Heimat Donezk in Richtung Westukraine fliehen musste, weiterhin zu Binnengeflüchteten in ihrem Heimatland. Die Umstände – wissenschaftliche genauso wie persönliche – sind schwierig, wie sie im Interview berichtet.

Frau Mikheieva, wie beeinflusst der aktuelle Krieg Ihre soziologische Arbeit?

Es ist sehr wichtig zu verstehen, wie Forschung unter Kriegsbedingungen stattfinden kann. Wie erlangen wir Wissen über die Realität, welche Möglichkeiten haben wir, welche Grenzen gibt es? Können wir die Forschungsmethoden, die wir unter „normalen“ Zuständen anwenden, ebenso unter Kriegsbedingungen nutzen? Können wir überhaupt Menschen befragen, die unter einer Besatzung leben? Können sie unter diesen Bedingungen frei sprechen? Wie können wir als Forschende die Teilnehmenden befragen, ohne ihnen zu schaden? Wie sprechen wir mit Menschen, die durch die Geschehnisse zutiefst traumatisiert sind? Welche Rolle spielen die Forscherinnen und Forscher, wenn sie ihre Ergebnisse veröffentlichen? Sind wir für die Reaktionen darauf verantwortlich? Und es gibt noch viele weitere solcher Fragen.

Die Untersuchung einer Gesellschaft in einer akuten Krise oder im Krieg ist nicht nur eine Frage der Methodik, sondern auch eine ethische Frage. Ich agiere hier zwischen Neutralität und emotionaler Beteiligung an dem Konflikt, zwischen der Position der Forscherin und der Bürgerin. Darauf gibt es leider keine fertige Antwort. Es ist jedoch sehr wichtig, sich diese Fragen zu stellen.

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Prof. Dr. Oksana Mikheieva - Foto: Heide Fest


Wie läuft Ihre Forschung derzeit ganz praktisch ab?

Seit 2014 verwende ich sogenannte „flexible“ Methoden, insbesondere Tiefeninterviews, die für die Forschung unter Kriegsbedingungen als geeignet gelten. Deshalb musste ich meine Forschungsmethoden nach dem 24. Februar 2022 nicht wesentlich ändern. Solche Techniken sind sanfter für die Menschen, da man als Forschende sieht, wann man mit der Befragung aufhören muss, weil es zu traumatisch wird. Die Methode ist auch sicherer, was die Anonymität und damit den Schutz der Daten der Teilnehmenden betrifft.

Welche Dimension hat Ihr Forschungsthema, die Binnenvertreibung?

Laut dem Global Report on Internal Displacement 2022 nimmt die Zahl der Binnenvertriebenen weltweit stetig zu. Lag die Zahl der Binnenvertriebenen 1998 noch bei 17 Millionen, so waren es Ende 2021 weltweit 59,1 Millionen Menschen – 53,2 Millionen aufgrund von Konflikten und Gewalt und 5,9 Millionen aufgrund von Katastrophen. Dieser Anstieg der Zahlen hat die Aufmerksamkeit für dieses Phänomen erhöht.

Welche Erkenntnisse haben Sie für die Ukraine?

Im Weltmigrationsbericht 2022 rangiert die Ukraine unter den 20 Ländern mit der höchsten Zahl an Binnenvertriebenen und steht damit laut Global Report on Internal Displacement 2022 an zweiter Stelle unter den europäischen Ländern. Diese Zahlen berücksichtigen jedoch nicht die Situation nach der umfassenden russischen Invasion am 24. Februar 2022, und die in diesem Bericht angegebenen Daten stimmen nicht mit den Statistiken der offiziell registrierten Binnenvertriebenen in der Ukraine überein.

Wie hat sich die Ausweitung des russischen Angriffskrieges auf die Binnenvertreibung ausgewirkt?

Das Ausmaß und die Art der Binnenvertreibung in der Ukraine haben sich erheblich verändert. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration war fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung der Ukraine gezwungen, ihren ständigen Wohnsitz für eine gewisse Zeit zu verlassen. Im Oktober 2022 waren 6,2 Millionen Ukrainer als Folge des Krieges Binnenvertriebene. Die Binnenvertreibung hat einen sehr dynamischen Charakter. Die Menschen migrieren ständig in Abhängigkeit von den Ergebnissen der Feindseligkeiten. Im Oktober 2022 gab es rund sechs Millionen Rückkehrerinnen und Rückkehrer, wobei davon 21 Prozent davon Menschen waren, die aus dem Ausland zurückkehrten.

Was ist mit den Menschen, die nicht zurückkehren; welche Gründe haben sie?

Faktoren, die sie von einer Rückkehr abhalten, sind in erster Linie Sicherheitsaspekte. Im Laufe der Zeit kommen jedoch weitere Bleibemotive hinzu, die mit der Beschäftigung am neuen Wohnort oder mit der Einschulung der Kinder zusammenhängen könnten.

Die anhaltende umfassende Aggression Russlands gegen das gesamte Land macht alle Regionen in Bezug auf die Sicherheit und die Lebensbedingungen problematisch. Die systematische Zerstörung der Infrastruktur durch die Russische Föderation führt zu zusätzlichen Härten für die breite Bevölkerung und verschärft die Situation der Binnenvertriebenen.

Wie erging es Ihnen persönlich nach dem 24. Februar 2022?

Ihre Frage erinnert mich an den Soziologen Erving Goffman und was er über Stigmatisierung geschrieben hat. Es geht darum, wann und warum sich eine Person unbehaglich fühlt. Wie verhalten wir uns in bestimmten Situationen Menschen gegenüber, wenn wir damit bislang keine Erfahrung gemacht haben? Es ist ein Zeichen von Empathie und Solidarität, wenn man eine Person fragt, wie es ihr geht. Aber wie soll man diese einfache, unschuldige Frage einer Person stellen, die in diesem Moment den kollektiven und persönlichen Schmerz eines andauernden Krieges, von Verlusten, verlorenen Leben und Chancen erlebt? Die Umwandlung von Gefühlen in Worte wird wahrscheinlich erst später möglich sein.  Das gleiche Unbehagen empfinde ich übrigens, wenn ich mit Ukrainerinnen und Ukrainern spreche – sowohl mit denen, die jetzt in der Ukraine sind, als auch mit denen, die das Land verlassen haben.

Eine weitere eher harmlose Frage lässt mich seit dem 24. Februar 2022 ratlos zurück: Woher komme ich? Hier muss ich eine lange Geschichte meiner erzwungenen Vertreibung nach 2014 beginnen und erklären, wie und warum ich mit einem Ort verbunden bin und das Recht habe zu sagen, dass ich von dort komme.

Wie sieht Ihre Zukunft an der Viadrina aus? Welche Perspektive haben Sie – und welche Wünsche?

Im Moment ist es schwer für mich, mir die Zukunft vorzustellen. Ich bin unerwartet länger als geplant an der Viadrina geblieben. Die Beziehungen zu den Kolleginnen und Kollegen, die in dieser Zeit entstanden sind, hätten sich nie so entwickelt, wenn ich nur für sechs Monate oder ein Jahr hierhergekommen wäre. Drei Jahre sind eine lange Zeit und es war eine schwierige Zeit – erst die Pandemie, dann der vollumfängliche Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Ich bin meinen Kolleginnen und Kollegen sehr dankbar für ihre freundliche Anteilnahme und Unterstützung. Und ich bin dem DAAD aufrichtig dankbar, denn dank dessen finanzieller Unterstützung konnte ich meine Forschungspläne umsetzen. Mein Vertrag läuft am 30. September 2023 aus, aber das Ende des Vertrages bedeutet nicht das Ende von Partnerschaften, gemeinsamen Projekten und Begegnungen. Und die Europa-Universität Viadrina hat in diesem Fall eine ganz besondere Stellung mit gutem Fachwissen über die Ukraine und guten Kontakten zu ukrainischen Universitäten, Think Tanks und Offiziellen. Mir persönlich ist die Viadrina wichtig, weil sie Teil meines Lebens ist; sie gibt mir eine interessante Arbeit mit talentierten und interessierten Studierenden und gute Erinnerungen an Freundschaft und Unterstützung.

(Interview: Heike Stralau)

 

Logbuch-Vorstellung von Prof. Dr. Oksana Mikheieva im November 2020: Fremd im eigenen Land – Gastdozentin Prof. Dr. Oksana Mikheieva erforscht Schicksal von Binnenvertriebenen in der Ukraine

Abteilung für Hochschul­kommunikation