„Eine ganze Schicht unserer Geschichte verbrannte in einem Augenblick“ – Online-Gespräch über Angriffe auf das ukrainische Kulturerbe

Seit dem 24. Februar werden in der Ukraine auch Denkmäler, Museen und Archive angegriffen. Über den Versuch eines „Gedächtnismordes“ sprach die renommierte Kulturwissenschaftlerin Prof. (em.) Dr. Dr. h.c. Aleida Assmann im Rahmen eines Online-Gespräches, zu dem der Viadrina-Lehrstuhl „Entangled History of Ukraine“ gemeinsam mit der Robert-Havemann-Gesellschaft und dem Deutsch-Ukrainischen Forum am 26. Juli 2022 eingeladen hatte. Das Gespräch bot auch einen vielstimmigen Einblick in die aktuelle Situation in ukrainischen Museen und Archiven.

Ob von einem Genozid zu sprechen sei, hänge nicht von der Anzahl der Leichen ab, die am Ende auf einem Haufen liegen, sagte Aleida Assmann in ihren drastischen Eingangsworten. Vielmehr zeige sich ein Genozid in der Verbindung von Barbarei – dem Mord an Zivilisten – und Vandalismus – der Zerstörung von Kulturgut. Beides geschehe in der Ukraine. „Unsere Diskussion ist überfällig, wir müssen diese Kulturdimension ins Zentrum rücken“, betonte Assmann. In ihren Worten wurde deutlich, dass es beim Schutz von Kulturgut nicht allein darum gehe, alte Steine und Dokumente zu bewahren. Vielmehr seien Angriffe auf ukrainisches Kulturgut ein Versuch, die Identität der ukrainischen Nation in ihrer Vielsprachigkeit, Multireligiosität und Multikulturalität zu vernichten.

assmann_600 ©Screenshot: Frauke Adesiyan

In seinen einleitenden Worten sprach Prof. Dr. Andrii Portnov, Inhaber der Professur „Entangled History of Ukraine“ von geschätzten 400 Kulturerbestätten in der Ukraine, die seit Februar 2022 von der russischen Armee angegriffen oder zerstört wurden. Seine Mitarbeiterin Bozhena Kozakevych und Oleksii Isakov, ebenfalls Doktorand an der Viadrina, verdeutlichten die aktuelle Situation in ukrainischen Museen und Gedenkstätten, indem sie Berichte von deren Leiterinnen und Leitern vorlasen. Die Texte werden vom Museum Crisis Center gesammelt, das Olga Honchar, Direktorin des Museum „Territory of Terror“ in Lwiw, in den ersten Tagen des Krieges gegründet hat. Sie berichten beispielsweise von 13.000 Akten des Sicherheitsdienstes der Ukraine, die schon am 25. Februar 2022 im Gebiet Tschernihiw zerstört wurden. „Eine ganze Schicht unserer Geschichte verbrannte in einem Augenblick“, las Bozhena Kozakevych (Bild unten) vor.

Zerstörung_600 ©Screenshot: Frauke Adesiyan

Um weitere Verluste dieser Art zu verhindern, arbeiten Archivarinnen und Archivare in der Ukraine derzeit unter Hochdruck an der Digitalisierung ihrer Dokumente. Dr. Kateryna Kobchenko von der Nationalen Taras-Schewchenko-Universität in Kyjiw berichtete: „Im Historischen Archiv in Kyjiw werden derzeit pro Tag bis zu 15.000 Blätter eingescannt und dadurch aufbewahrt.“ Dringend benötigt werden dort vor allem Serverkapazitäten aber auch feuerfeste Aufbewahrungsmöglichkeiten für besondere Unikate. „Eine Evakuierung der Dokumente kommt rechtlich und logistisch nicht in Frage. Allein für dieses Archiv wären 700 Lkw nötig“, sagte sie.

Gesprächsrunde_A_600 ©Screenshot: Frauke Adesiyan

An der Online-Gesprächsrunde nahmen teil (von oben links im Uhrzeigersinn): Moderator Gerald Praschl vom Deutsch-Ukrainischen Forum, Dr. Kateryna Kobchenko (Nationalen Taras-Schewchenko-Universität Kyjiw), Musiker und Autor Yuriy Gurzhy, Prof. (em.) Dr. Dr. h.c. Aleida Assmann und Dr. Oleh Turiy (Ukrainische Katholische Universität Lwiw).


 Auch der Historiker Dr. Oleh Turiy, Vizerektor an der Ukrainischen Katholischen Universität (Lwiw), beobachtet die Bedrohung der historischen Sammlungen einerseits und die teilweise weit fortgeschrittene Sicherung andererseits. Wichtig war ihm im Gespräch die Einordnung der Zerstörungen in Putins Ideologie. „Dieser Krieg ist nicht nur ein Eroberungskrieg, sondern ein reiner Vernichtungskrieg. Es geht Putin um die Vernichtung von allem, was Ukrainisch ist. Deshalb sind auch die wichtigen identitätsstiftenden Objekte in Gefahr“, warnte er. Er sprach von der Vernichtung eines Volkes und seines Kulturerbes sowie der Menschen, die für dieses Erbe stehen. „Wir Menschen aus Wissenschaft und Kultur verstehen: Es geht um Fragen von Leben und Überleben und deshalb bitten wir auch um militärische Unterstützung.“

Aleida Assmann zeigte sich angesichts der vielfältigen Berichte erschüttert und betonte, dass die „gezielte Zerstörung der Geschichte“ etwa durch den Angriff auf das Archiv des Sicherheitsdienstes schon am zweiten Kriegstag weitreichende Folgen hat: „Wenn das Gedächtnis gemordet wurde, ist es nicht mehr möglich, dass sich eine Nation ihre Geschichte rekonstruiert und erzählt, dass sie Menschen rehabilitieren kann, dass sie ein Recht auf Selbstbestimmung hat – all das ist ausgelöscht.“ Sie sei ergriffen vom Mut und der Improvisationskraft der Beteiligten, die Techniken und Strategien finden, um in einen Modus des Weitermachens zu finden.

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(FA)

Abteilung für Hochschul­kommunikation