„Die Ukraine als Subjekt ernst nehmen.“ Online-Diskussion über das Ukraine-Bild in Deutschland

Am 4. März 2022 lud Prof. Dr. Andrii Portnov, Inhaber der Professur für „Entangled History of Ukraine“, zu einer öffentlichen Online-Diskussionsveranstaltung ein. Thema war das Ukraine-Bild in Deutschland und die Ukraine-Forschung in Krisenzeiten. An der virtuellen Podiumsdiskussion nahmen neben Prof. Dr. Andrii Portnov auch Rebecca Harms teil, langjährige Abgeordnete für Bündnis 90 / Die Grünen im EU-Parlament, sowie der Ukrainer Kyrylo Tkachenko, Doktorand der Viadrina, der aus Kyjiw zugeschaltet war. 

Collage-Ukraine ©Heide Fest

Der zentrale Satz der Veranstaltung fiel gleich zu Beginn der Diskussion. „Wir hätten früher zuhören müssen“, sagte die Viadrina-Präsidentin Prof. Dr. Julia von Blumenthal in ihren Grußworten. Das zu späte Gehörtwerden kritisierte auch Rebecca Harms, die bereits vor Jahren die Euromaidan-Bewegung unterstützt hatte. Man habe zu lange eine nicht funktionierende Appeasement-Politik gegenüber Russland betrieben, den Truppenaufmarsch als ein „Aufplustern“ verharmlost und die Stimmen, die vor Putin warnten, nicht ernst genommen. Es habe sich schon mit der Annektierung der Krim abgezeichnet, dass eine andere Politik notwendig sei. Sie plädierte nachdrücklich dafür, der Ukraine eine Perspektive als EU-Mitgliedstaat anzubieten. Angesichts der Erfahrungen mit der deutschen Politik gegenüber der Ukraine, sei sie aber noch skeptisch, ob die deutsche „Wende gegenüber der Ukraine“ tatsächlich nachhaltig sei.

 Die Forderung, die Ukraine in die EU und in die NATO aufzunehmen, wurde auch von Kyrylo Tkachenko unterstützt. Er warnte aber zugleich vor einer „Ukraine-Enttäuschung“, vor allzu viel Euphorie, er traue dem positiven Ukraine-Bild, das jetzt in den deutschen Medien gezeichnet werde, noch nicht. Denn die Vorurteile in Deutschland gegenüber der Ukraine säßen tief. Er appellierte, Geduld zu haben mit der Ukraine, denn auch in seinem Land bestehe Reformbedarf. Die Traumata, welche die Bevölkerung unter dem zaristischen und unter autoritären Regimes erlitten habe, bräuchten Zeit, um verarbeitet zu werden.

Prof. Dr. Andrii Portnov beklagte, dass das Bild, das Deutschland in den letzten zehn Jahren von der Ukraine hatte, sehr stark mit Klischees aufgeladen sei. Die Debatte müsse ehrlicher werden, so der Historiker. Insbesondere störe ihn, dass die komplexe Geschichte der Ukraine häufig auf den Nationalismus reduziert werde. Viele nähmen die Ukraine, auch im wissenschaftlichen Kontext, nur im Zusammenhang mit Russland wahr. Anstatt die sprachlichen und religiösen Unterschiede in der Ukraine als einen Reichtum anzusehen, würden sie allzu oft als „Spaltung“ problematisiert. Er nannte beispielhaft die Transliteration ukrainischer Ortsnamen, z.B. Kyjiw statt Kiew. Bis vor kurzem sei dies noch als Nationalismus abgetan worden. „Über diese Logik müssen wir ernsthaft nachdenken, dann verstehen wir sehr viel über diesen Krieg“, erklärte Portnov. Auch die Ukraine-Studien müssten aus dem Schatten der Russland-Studien treten, es sei notwendig, die Ukraine als Subjekt ernst zu nehmen. Ukrainische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssten als gleichberechtigte Stimmen gelten. Nur dann bestehe die Chance, so Portnov, nicht wieder in eine Situation zu geraten, in der es zu spät sei.

(YM)

Abteilung für Hochschul­kommunikation