„Es gibt für mich eine Zeit vor und eine Zeit nach dem Kriegsausbruch.“ Die ukrainische Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Prof. Dr. Ievgeniia Voloshchuk im Gespräch

Prof. Dr. Ievgeniia Voloshchuk ist akademische Mitarbeiterin am Axel-Springer-Lehrstuhl für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, Exil und Migration der Viadrina. Sie lebt und arbeitet seit 2014 in Deutschland. Für das Logbuch erzählt sie von der Wichtigkeit, Hilfe für die Menschen aus und in der Ukraine zu organisieren und wie sie gerade ihren eigenen Alltag und die freiwillige Hilfe bewältigt.

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Prof. Dr. Ievgeniia Voloshchuk engagiert sich für geflüchtete Menschen aus der Ukraine in Deutschland, aber auch für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ihr Heimatland nicht verlassen wollen oder können. - Foto: Heide Fest


„Ich möchte über konkrete Hilfe für die Menschen in und aus der Ukraine sprechen. Das ist für mich der entscheidende Punkt, nicht meine persönliche Betroffenheit“, erklärt die aus Kyjiv stammende Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Prof. Dr. Ievgeniia Voloshchuk zu Beginn des Gesprächs. Bei der Hilfe für die Menschen aus der Ukraine denkt sie zunächst an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich wie ihre Kollegin Dr. Oxana Matiychuk entschieden haben, in ihrer Heimat zu bleiben. „Oxana Matiychuk leitet das bekannte Gedankendach-Zentrum in Tscherniwzi. Obwohl sie die Möglichkeit hatte, die Ukraine zu verlassen, hat sie beschlossen, zu bleiben. Sie arbeitet jetzt viele Stunden am Tag ehrenamtlich für die Menschen, die nach Tscherniwzi geflohen sind“, berichtet sie über die Beweggründe ihrer Kollegin, die darüber auch einen Artikel mit dem Titel „Wir bleiben“ für die Süddeutsche Zeitung geschrieben hat. Vor zwei Wochen habe sie mit ihr gesprochen, erzählt Voloshchuk, und ihr eine Kooperation angeboten. „Sie würde sehr gern ein gemeinsames Projekt mit der Viadrina durchführen. Aber es wird deutlich, dass die Menschen, die in der Ukraine bleiben und trotzdem weiter wissenschaftlich arbeiten wollen, dies nur unter sehr schwierigen Bedingungen tun können.“ Deshalb müsse man Förderprogramme aufsetzen, die derartige Kooperationen zwischen deutschen Hochschulen und ukrainischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterstützen, so Voloshchuk.

Arbeitsalltag im Ausnahmezustand

Lobend äußert sie sich über die Hilfe für die Geflüchteten in Deutschland. „Ich bin fasziniert von der Solidarität und Hilfe, die diesen Menschen hier entgegengebracht wird“, sagt sie. „Fast jeder Bekannte nimmt eine Familie auf, die Wohnungen sind offen, so viele Leute sind involviert.“ Im Vergleich zu vielen Deutschen leiste sie nur wenig Hilfe, fügt sie bescheiden hinzu, obwohl auf Nachfrage klar wird, wie stark ihr Alltag derzeit davon bestimmt ist: Vor dem Interviewtermin am Vormittag hat sie bereits darum bemüht, für ein geflüchtetes Ehepaar in Berlin eine Unterkunft zu finden, Übersetzungshilfe für eine Frau aus Charkiw geleistet und gemeinsam mit Dr. Kirsten Möller an einem Antrag für ein Stipendium gearbeitet, das der aus der Ukraine geflohenen Germanistin Dr. Tamila Kyrylova ermöglichen soll, ihre wissenschaftliche Arbeit an der Viadrina fortzuführen. Dazwischen versucht sie, den Kontakt zu halten mit Angehörigen sowie Freundinnen und Freunden in der Ukraine. Eine Freundin müsse in einem Keller ausharren, erzählt sie, telefonisch sei sie nicht erreichbar, die Kommunikation läuft über eine gemeinsame Bekannte vor Ort. Wie bewältigt sie unter diesen Umständen ihren Arbeitsalltag? „Im ersten Monat nach Kriegsausbruch war das sehr schwierig“, bekennt Voloshchuk. „Aber am Lehrstuhl habe ich grandiose Unterstützung; insgesamt macht die Viadrina so viel, jeden Tag. Das gibt mir Kraft. Aber ja, man muss einen neuen Modus finden, wie man das zusammenbringen kann.“

Schnelle Hilfe und Integration

Ievgeniia Voloshchuk ist gut vernetzt, in Frankfurt (Oder) und in Słubice; um geflüchteten Menschen zu helfen, nutzt sie sowohl ihr privates, wie auch das berufliche Netzwerk. Dann kommt sie erneut darauf zu sprechen, wie viel andere Menschen leisten: Ihre Kollegin Tamila Kyrylova, selbst erst seit wenigen Wochen in Deutschland, unterrichtet an der Volkshochschule in Frankfurt (Oder) ehrenamtlich zwei Mal pro Woche ukrainische Kinder, die in Deutschland noch nicht zur Schule gehen können. „Es wäre toll, wenn man solche Projekte auch finanziell unterstützen könnte“, wünscht sich Voloshchuk. „Es ist ein beispielhaftes Integrationsprojekt. Solche konkrete Hilfe braucht es. Auch damit Mütter, denn es sind vor allem Mütter, die geflohen sind, entlastet werden und hier eine Arbeit aufnehmen können.“

Lehren für die eigene wissenschaftliche Arbeit

Eine Perspektive bräuchten aber nicht nur die geflüchteten Mütter mit ihren Kindern, sondern auch die ukrainischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die bereits seit Jahren im Rahmen von befristeten Arbeitsverträgen an deutschen Hochschulen arbeiten. „Was passiert jetzt mit diesen Menschen?“, fragt Voloshchuk, die selbst davon betroffen ist. „Mein Arbeitsvertrag endet im August, meine Wohnung ist in Kyjiv, aber dahin kann ich derzeit nicht zurück“, sagt sie. Auch für diese Hochschulangehörigen müsse man eine Lösung finden. Es sei wichtig, dass die Erfahrung des Krieges in die wissenschaftliche Arbeit Eingang finde, ihre Arbeit sei „geteilt in eine Zeit vor und eine Zeit nach dem Kriegsausbruch“. Seit dem 24. Februar frage sie sich, wie es zu diesem Krieg habe kommen können. „Das ist keine abstrakte, keine politische Frage für mich. Sondern ich frage mich das als Geisteswissenschaftlerin“, betont die habilitierte Germanistin. „Ich frage mich persönlich, was habe ich nicht gesehen, was habe ich zu tun versäumt, um diesen Krieg zu verhindern? Welche historischen Erfahrungen müssen wir reflektieren? Diese Fragen müssen in heutige Projekte einfließen!“

 (YM)

 

Abteilung für Hochschul­kommunikation