Übersetzen als Dekonstruktion postkolonialer Stereotype – Claudia Dathe erhält Wilhelm-Merton-Preis für Europäische Übersetzungen

Für ihre Übersetzungen aus dem Ukrainischen wurde Claudia Dathe am 11. November 2022 in Frankfurt am Main mit dem Wilhelm-Merton-Preis für Europäische Übersetzungen ausgezeichnet. In ihrer Dankesrede erläuterte die Übersetzerin, die seit vergangenem Jahr das Forschungsverbundprojekt „European Times“ an der Viadrina koordiniert, ihren eigenen Zugang zur ukrainischen Sprache und die Herausforderungen vom Übersetzen in Kriegszeiten.

Den mit 25.000 Euro dotierten Preis nahm Claudia Dathe im Rahmen eines feierlichen Festaktes im Kaisersaal des Römers in Frankfurt am Main entgegen. Die Jury des Preises, der alle drei Jahre von der Stadt Frankfurt am Main gemeinsam mit der Gontard & MetallBank Stiftung verliehen wird, hatte Claudia Dathe als „eine wache, engagierte Zeitgenossin, die aus dem Ukrainischen wie aus dem Russischen übersetzt“ für die Ehrung ausgewählt. Sie vermittele mit „bewundernswertem Sprachgefühl“ zwischen Sprachen und Kulturen und übertrage ukrainische und russische Literatur „in ein feines, melodisches Deutsch“. >>>weiterlesen

Claudia Dathe während der Preisverleihung mit der Kulturdezernentin der Stadt Frankfurt am Main, Ina Hartwig, (Bild 1), Laudatorin Chrystyna Nazarkewytsch (Bild 2), Claudia Dathe während ihrer Dankesrede (Bild 3) und mit der Laudatorin (Bild 4)
Fotos: Alexander Englert


Claudia Dathe selbst machte in ihrer Dankesrede schnell deutlich, dass für sie nicht erst die Auszeichnung, sondern vielmehr schon ihre eigene Beschäftigung mit der ukrainischen Sprache und dem Übersetzen ein „politischer Akt der Dekolonialisierung“ sei. Sie, die an der Universität Leipzig unter anderem Russisch studiert hatte, begann 2002 die ukrainische Sprache nach zwei Jahren als Lektorin und Dozentin in Kyjiw zu erlernen und bald Autoren wie den jüngst mit dem Friedenspreis ausgezeichneten Serhij Zhadan zu übersetzen. Laudatorin Chrystyna Nazarkewytsch, Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin an der Universität Lwiw, würdigte Claudia Dathes Pionierarbeit: „Die Frage nach der Sprache, die damals, vor 20 Jahren, nicht einmal in der Hauptstadt aktiv gebraucht wurde, nach der Sprache, die sich die Bücherregale erkämpfen musste und die scheinbar nutzlos war, stellte sich die eigensinnige, nach Wahrheit und Gerechtigkeit strebende Lektorin immer wieder, bis sie die Literatur in dieser Sprache zu lesen begann und für sich eine neue Welt entdeckte, eine Welt, die von der sowjetischen Gleichschaltungspolitik jahrzehntelang und von dem zaristischen kolonialen Chauvinismus jahrhundertelang verdrängt und stillgeschwiegen wurde.“

Claudia Dathe bestätigte diese Sicht in ihrer Rede und betonte, dass das Übersetzen von Werken aus einer kleinen Literatur stets auf Neue bedeute: „Sichtbarmachen, zu Gehör bringen, Kontexte präsentieren, Wissenslücken schließen, postkoloniale Narrative und Stereotype dekonstruieren.“ Welche Herausforderungen diese Übersetzungsarbeit angesichts des aktuellen Krieges Russlands gegen die Ukraine beinhalte, verdeutlichte sie am Beispiel der Kritik, die Friedenspreisträger Serhij Zhadan unter anderem für seine Formulierungen über russische „Barbaren“, entgegenschlägt. Sie verdeutlichte ihre Rolle als Übersetzerin: „Ich stehe zwischen den Traumata, die der Kriegsalltag hervorruft, und den hierzulande existierenden Resonanzräumen für Emotionalität.“ In der Übersetzung könnte sie natürlich ,Barbaren‘ durch ,grausame Menschen‘ ersetzen; sie könnte dafür plädieren, dass Formulierungen gestrichen werden, „damit der hiesige Leser nicht mit der Gefühlswelt des Autors konfrontiert und ihm nur das zugemutet wird, was sich in seine Erfahrungs- und Wahrnehmungswelt widerspruchslos einfügt“. Schnell macht Claudia Dathe allerdings deutlich, dass sie in ihrer Arbeit einen anderen Weg einschlägt: „Oder sollte ich mich nicht vielmehr dafür einsetzen, dass im Angesicht der Gewalt Gefühle wie Hass, Rache und Wut geäußert werden dürfen, weil sie eine normale Reaktion auf das Geschehen darstellen? Dass Räume geschaffen werden, in denen mehr Wissen und mehr Auseinandersetzung um Begriffe, Ereignisse und Gefühle möglich wird?“

 Die aktuelle Auszeichnung reiht sich für Claudia Dathe in eine Vielzahl von Preisen ein. So wurde sie im Jahr 2020 zusammen mit Yevgenia Belorusets für das Buch „Glückliche Fälle“ mit dem Internationalen Literaturpreis ausgezeichnet. 2021 erhielt sie den Drahomán-Preis für die Übersetzung von Serhij Zhadans Gedichtband „Antenne“ und Oleksii Tschupas Roman „Märchen aus meinem Luftschutzkeller“. Zuletzt hatte sie von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Bundesverdienstorden entgegengenommen. Darauf angesprochen sagte sie jüngst, dass all die Preise eine wohltuende Würdigung seien. Wirklich freuen würde sie sich derzeit aber viel lieber über einen Sieg der Ukraine und ein Ende des Sterbens in dem Land, das ihr nicht nur literarisch so viel bedeutet.

(FA)

 

Abteilung für Hochschul­kommunikation