Zwischen Geschäftsinteresse und Menschenrechten – Viadrina-Team reist für Forschungsprojekt über Lieferketten nach Indien

Was bedeutet das deutsche Lieferkettengesetz für mitunter tausende Kilometer entfernte Zulieferbetriebe? Und wie könnten außergerichtliche Beschwerden bei Menschenrechtsverletzungen funktionieren? Dazu forschen Prof. Dr. Ulla Gläßer und ihr Team. Auf einer Reise mit der Nichtregierungsorganisation INKOTA zu indischen Lederbetrieben im April 2023 konnten Ulla Gläßer und ihre wissenschaftliche Mitarbeiterin Helene Bond ihre Arbeit mit der Praxis abgleichen. Davon berichtet hier Helene Bond.

 

Frau Bond, mit welchem Ziel sind Sie nach Indien gereist?

Die Reise hatte das Ziel mit indischen Partnerorganisationen den Kontakt zu Stakeholdern der indischen Lederlieferkette zu suchen und in den Austausch über das deutsche Lieferkettengesetz und insbesondere außergerichtliche Beschwerdemechanismen zu kommen.

Welche Erkenntnis war für Sie auf der Reise wichtig?

Wir haben mit vielen Zulieferunternehmen gesprochen, die auch den wirtschaftlichen Logiken ihrer Umgebungen ausgesetzt sind. Sie stehen unter Druck von den Bestellern, möglichst geringe Preise anzubieten, unter Druck von lokalen Regulierungen vor Ort und internationalen Preiszwängen. Dabei möchten sie zwar Anforderungen von deutschen Unternehmen erfüllen, es wirkte jedoch eher wie ein Geschäftsinteresse als ein Menschenrechtsinteresse. Diese Unternehmen müssen in der Diskussion viel stärker in den Blick genommen werden, denn sie beschäftigen die Menschen vor Ort und setzen die Standards um.

 

Gab es besonders eindrückliche konkrete Begegnungen?

Bei einem der Zulieferer durften wir die Gerberei besichtigen. Den Geruch und Anblick werde ich nie vergessen. Es war eine riesige Halle, in der überall Tierhäute in verschiedenen Bearbeitungsstadien lagen. Dabei arbeiteten etwa 20 Personen meist in Flip-Flops und ohne Schutzkleidung an großen Maschinen. Der Geruch war eine Mischung aus tierischem Fett und Gerberei-Chemikalien. Für mich war er schwierig zu ertragen.

Wir haben zudem mit Heimarbeiterinnen gesprochen, die Aufträge wie das Flechten von Lederbändern oder das Nähen von Lederartikeln zu Hause erledigen. Sie verdienen umgerechnet rund 1,50 Euro am Tag und Lebenshaltungskosten in Delhi sind nicht unbedingt günstig. Es hat mich sehr berührt mit ihnen zu sprechen. Sie würden ihre Kinder gerne zur Schule schicken, können es sich aber nicht leisten, da sonst der Verdienst fehlt und der Schulbesuch mit Kosten verbunden ist.

 

Wie bewerten Sie die Einblicke im Hinblick auf Ihre Forschungsergebnisse?

Im Wesentlichen wurden die Erkenntnisse angereichert. Im Schreibprozess des Forschungsprojektes haben wir uns immer wieder über den Bezug zur Praxis und die Umsetzbarkeit eines Modelles Gedanken gemacht. Wir haben einen prototypischen idealen Beschwerdemechanismus entworfen, der es den Betroffenen wirklich ermöglicht für sich einzustehen und gleichzeitig durch kontinuierliche Rückmeldungsprozesse die Bedingungen langfristig verbessern kann. Nun haben wir einen kleinen Einblick in einen Ausschnitt einer Lieferkette in Indien erhalten. Die Bedingungen verschiedener Branchen, Länder und Stufen der Lieferketten sind jedoch unglaublich divers. Kultur spielt eine Rolle, das Verhalten des Heimatstaates, die Ernsthaftigkeit der bestellenden Unternehmen, die Kontrolldichte vor Ort und vieles mehr. So werden die Herausforderungen beim Abbau seltener Erden in Minen im Kongo ganz andere sein.

Ganz praktisch haben wir zudem viele Menschen kennengelernt, die spannende Interviewpartner:innen für spätere Forschung wären.

 

Interview: Frauke Adesiyan
Fotos: Helene Bond, Anne Neumann

 

 

Infos zum Forschungsprojekt
„Außergerichtliche Beschwerdemechanismen entlang globaler Lieferketten – Empfehlungen für die Institutionalisierung, Implementierung und Verfahrensausgestaltung“ lautet der Titel des Forschungsberichtes, den Prof. Dr. Ulla Gläßer, Robert Pfeiffer, Dominik Schmitz und Helene Bond im Juni 2021 fertiggestellt hatten. In dessen Folge gab es zahlreiche Kooperationsanfragen, unter anderem von INKOTA. In diesem Rahmen entstand ein Arbeitspapier zu außergerichtlichen Beschwerdemechanismen in indischen Lederlieferketten.
Am Anfang des Forschungsprojektes steht die Überzeugung, dass der Zugang zu effektiver Abhilfe bei Menschenrechtsverstößen, Umweltbeeinträchtigungen und anderen Problemlagen eine wichtige Säule im Bereich Wirtschaft und Menschenrechte darstellt. Neben staatlichen und gerichtlichen Systemen sollten dafür auch nicht-staatliche außergerichtliche Beschwerdemechanismen bereitstehen. Das Forschungsteam beschäftige sich mit der effektiven Ausgestaltung eines solchen Mechanismus, der neben schneller Abhilfe im Konfliktfall auch systemisch Erkenntnisse aus den aufkommenden Fällen auswertet. Die Erkenntnisse dieser Auswertung sollen einerseits in den Mechanismus selbst, aber auch im Rahmen einer Risikoanalyse in die Unternehmensentscheidungen sowie idealerweise das regulatorische und politische Umfeld eingespeist werden.

 

 

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