„Wenn die Verlierer nicht gehört werden, werden sie zu Unerhörten, die sich auch unerhört verhalten“ – Prof. Dr. Jürgen Neyer stellt neues Buch „Europa in Unfrieden“ zur Diskussion

Es gibt ein Muster, wann politische Systeme in die Krise geraten, und damit eine Erklärung für den Erfolg von Populisten, zunehmende Nationalismen und Phänomene wie den Brexit, kurzum, für die Krise der Europäischen Union – so die These von Viadrina-Politikwissenschaftler Prof. Dr. Jürgen Neyer, die er in seinem soeben erschienenen Buch „Europa im Unfrieden. Soziale Konflikte und politische Umwälzungen in der europäischen Geschichte und Gegenwart“ vertritt und am 10. Mai 2023 im Kolloquium des Instituts für Europa-Studien an der Viadrina (ifes) zur Diskussion stellte. Und das nicht ohne Widerspruch.

Wann geraten politische Systeme in die Krise, was erschüttert sie und was lernen wir daraus für die Situation der Europäischen Union heute? Diese Fragen hätten ihn umgetrieben und dazu veranlasst, zunächst in einer Lehrveranstaltung mit Studierenden einen historischen Bogen zu spannen, um den Auf- und Niedergang unterschiedlicher politischer Systeme von Rom bis heute besser zu verstehen. „Eine solche Perspektive ist auch eine Anmaßung und nur auf Kosten eines hohen Abstraktionsniveaus zu haben. Aber die Frage, ob es ein Narrativ, ein Muster über unterschiedliche politische Systeme hinweg gibt, hat mich angetrieben “, räumt Neyer zu Beginn ein.

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Gefunden hat er das Muster im Modell der politischen Kybernetik von Karl Deutsch; es richtet den Blick auf den strukturell ähnlichen Aufbau aller politischen Systeme mit Regelungsautoren, also denen, die Regeln machen einerseits, und Regelungsadressaten, die sich nach ihnen verhalten müssen, andererseits. „Das politische System funktioniert dann gut, wenn der kommunikative Kreislauf zwischen diesen beiden Ebenen reibungslos ist, also wenn die ,nerves of government‘, die vermittelnden, so genannten intermediären Strukturen eine wechselseitige Kommunikation zwischen beiden Ebenen ermöglichen. Wenn aber dieser Austausch über intermediäre Strukturen, wie Parlamente oder Interessengruppen, nicht mehr funktioniert, und der Zugang zu den Regelungsautoren versperrt wird, führt das zu politischen Krisen“, so Neyers Überzeugung.

Eine Kristallkugel zur Vorhersage der Zukunft sei dieses Modell nicht, aber diese Sichtweise verdeutliche ein Muster, das sich über die Epochen hinweg wiederholt: Innovationsschübe verstärkten den Druck auf intermediäre Strukturen: „Wir beobachten, dass Innovationsschübe, wie Sklavenimport, Buchdruck oder industrielle Revolution immer Gewinner und Verlierer hervorbringen. Wenn die Verluste nicht kompensiert werden, werden die Verlierer laut und wenn sie nicht gehört werden, werden sie zu Unerhörten, die sich auch unerhört verhalten.“ Das Zentrale also, was die Europäische Union tun müsse, sei, die intermediären Strukturen zu stärken; und zwar insbesondere die, die sich für Redistribution einsetzen: „Ich würde mir wünschen, dass das Buch die Parlamentarier in der EU dazu ermuntert, sich für redistributive Regelungen, wie etwa eine europäische Arbeitslosenversicherung, einzusetzen.“

„Spannend und unterhaltsam zu lesen, eloquent und mutig“, befand Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Eva Heidbreder von der Universität Magdeburg über Neyers Buch. Entschieden widersprach sie jedoch dem Ausgangspunkt, der Diagnose eines drohenden Zerfalls und der profunden Krise der Europäischen Union. Das Beispiel Brexit etwa zeige, „dass sich 27 andere Staaten, die nicht alle große EU-Anhänger waren, in wenigen Tagen, wenn nicht Stunden, darauf geeinigt haben, dass es sich lohnt, in der Europäischen Union zu verbleiben; und es gibt keine weiteren Anzeichen dafür, dass weitere Mitgliedstaaten dem britischen Beispiel folgen.“ Der Umgang mit weiteren Krisen zeige zudem, dass die Union sehr wohl resilient sei. Sie fragte zugespitzt: „Haben die Akteure das Buch schon gelesen oder ist die Ausgangsdiagnose zu negativ?“

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Viadrina-Historikerin Prof. Dr. Claudia Weber schloss an diesen Befund an; es sei verdienstvoll, den Blick auf die soziale Frage zu richten. „Dass wir uns zurzeit in einem ,Interregnum‘, einer Zeit fundamentaler Transformationen und absoluter Unklarheit befinden, ist eine sehr starke These, und, wenn diese tatsächlich stimmt, bezweifle ich, dass wir mit einem gestärkten europäischen Parlament und einer Arbeitslosenversicherung diesem Interregnum beikommen können.“ Ein Rezept sei nicht einfach zu finden, aber das flammende Plädoyer am Ende des Buches, aus der Geschichte zu lernen, teile sie nicht: „Als Historikerin habe ich große Skepsis dem Glauben gegenüber, dass Menschen aus der Geschichte lernen. Ja, man kann aus der Geschichte lernen, aber nur für einen begrenzten Zeitraum.“

Auf das dem Band zugrundeliegende Geschichtsverständnis ging auch Viadrina-Politikwissenschaftler Prof. Dr. Michael Minkenberg ein: Das Kreislaufmodell erinnere einerseits an das kulturpessimistische Geschichtsmodell Oswald Spenglers, andererseits liege ihm mit der Vorstellung des pathologischen Lernens doch ein teleologisches, fortschrittsgetriebenes Verständnis zugrunde. „Das Buch ist mit weniger als 250 Seiten dünn für 2.500 Jahre europäische Geschichte, aber es ist ein wertvoller Steinbruch für die Entwicklung neuer Gedanken“, so Minkenberg.

Er sei weder Kulturpessimist, noch Anhänger fortschrittsgläubiger, teleologischer Geschichtsauffassungen; dennoch aber gebe es Muster, erwiderte Neyer. „Geschichte reimt sich“, sagte er, und aus diesem Rhythmus oder Reim gelte es zu lernen. Konkret bedeute das, die intermediären Strukturen und die diskursive Integration in der Europäischen Union zu stärken, damit „die großen Fragen nicht hinter verschlossenen Türen, sondern transparent ausgetragen und diskutiert werden. Dafür brauchen wir – und hier sehe ich keine Alternative – eine stärkere Parlamentarisierung der Europäischen Union “, so der abschließende Appell des Autors.

Moderiert wurde der Abend von Politikwissenschaftlerin Dr. Sonja Priebus.

Der Band „Europa im Unfrieden. Soziale Konflikte und politische Umwälzungen in der europäischen Geschichte und Gegenwart“ ist als gedruckte Ausgabe und als kostenfreier Download im Open Access erhältlich.

Text und Fotos: Michaela Grün

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