„Große Entwicklungen beobachtet man am besten vom Rand“ – Gastwissenschaftler Dr. Gal Kirn über seinen Aufenthalt an der Viadrina

Der Kulturhistoriker Dr. Gal Kirn beendet am 15. Mai 2023 einen dreimonatigen Gastaufenthalt an der Professur Kulturphilosophie / Philosophie der Kulturen von Prof. Dr. Katja Diefenbach. Zum Abschluss seiner durch die Alexander-von-Humboldt-Stiftung finanzierten Zeit an der Viadrina hat er einen Workshop über postsozialistische Transformation und Erinnerung veranstaltet. Warum er die Arbeit an der Grenze besonders schätzt, erklärt er im Interview. 

Herr Kirn, wie kam der Kontakt zur Viadrina zustande, warum kamen sie für ihren Forschungsaufenthalt ausgerechnet nach Frankfurt (Oder)?
Ich habe Prof. Dr. Katja Diefenbach vor vielen Jahren an der Jan van Eyck Academie in Maastricht kennengelernt; sie hat dort ein Seminar über die Auswirkungen von 1968 gehalten. Als Stipendiat der Alexander-von-Humboldt-Stiftung habe ich zudem die Möglichkeit, alle drei Jahre für jeweils drei Monate nach Deutschland zurückzukommen. Ich habe diesen kleinen Ausflug genutzt, um Katja Diefenbach und ihr Team besser kennenzulernen, zu schreiben und weitere Forschung vorzubereiten. 2025 und 2026 werde ich an die Viadrina zurückkommen, denn wir konnten eine Finanzierung durch das Postdoc Network Brandenburg gewinnen.

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Sie kommen aus dem slowenischen Ljubljana und interessieren sich in Ihrer Forschung für das Ende des Sozialismus und die Transformationen im Anschluss. War es auch deshalb interessant für Sie, ganz im Osten Deutschlands zu arbeiten?
Orte an Grenzen haben für mich eine Resonanz. Ich habe beispielsweise an der italienisch-slowenischen Grenze in Nova Gorica promoviert. Es gibt ein theoretisches Interesse an diesen Orten abseits der Zentren. Große Entwicklungen beobachtet man am besten vom Rand. Um zu verstehen, wie die Geschichte sich bewegt, wie und wo die Auswirkungen von Politik stattfinden, sollte man nicht im Zentrum stehen.

Hinzu kommt, dass ich mich für den Übergang vom Sozialismus zum Postsozialismus interessiere; der zeigt sich im früheren Jugoslawien anders als in Ostdeutschland. Es gibt das Erbe des Sozialismus‘, das in Deutschland oft noch sehr schwer daherkommt, beispielsweise als diese alten Vorurteile zwischen „Ossis“ und „Wessis“, als Ostalgie oder als starker negativer Revisionismus. Mich interessieren beim Blick in die Vergangenheit auch die produktiven Ansätze, über die man weiter nachdenken kann. Warum sollen wir alle Aspekte des Sozialismus in den „Mülleimer der Geschichte” werfen?

Zum Abschluss Ihres Aufenthaltes haben Sie gemeinsam mit Kolleginnen am 4. Mai einen Workshop mit dem Titel „Politics and Memory of Transitional Time“ veranstaltet. Worum ging es dabei?
Der Grundgedanke ist, dass die aktuellen Memory Studies einen viel zu großen Fokus auf die negative Vergangenheit legen und diese dabei nur mit Gewalt verbinden: Wir verstehen Geschichte als Geschichte von Gewalt. Diese Obsession für Hass und Gewalt verhindert, dass wir echte Überlegungen über die Zukunft anstellen, abseits einer apokalyptischen Dimension. Ich denke, wir müssen mehr über die Vergangenheit der Emanzipation und der Hoffnung forschen und erzählen, um in der Zukunft etwas zu verändern. Wenn man nur Melancholie und Katastrophismus kultiviert, erkennt man die Solidaritäten nicht, die es auch gab. Während des Workshops wurde in diesem Zusammenhang über die Beziehung zwischen Utopie, Erinnerung und Zeit gesprochen; andere Forschende haben konkrete Fallstudien vorgestellt.

Womit werden Sie sich in der Zukunft beschäftigen – auch an der Viadrina?
Ich habe einige Ideen, wie man die Beziehungen zwischen Kapital, Erinnerung und Schuld erforschen kann. Ich möchte Fallstudien mit postkolonialen Kulturen bearbeiten und sie mit postsozialistischen vergleichen. Wie interessant das ist, lässt sich unter anderem an den Ikonoklasmen sehen, also an dem teilweisen gewaltsamen Umgang mit Denkmälern. Bei dem Zusammenhang von Erinnerung und Schuld im polit-ökonomischen Sinn spielt Haiti eine sehr interessante Rolle. Dort hat man sich schon um 1800 von der Sklaverei befreit, für die Freiheit aber 160 Jahre lang Schulden an die Kolonialmacht Frankreich abgezahlt. Über diese Logik von politischer Ökonomie und Erinnerung gibt es noch kein tiefes Verständnis, das möchte ich gern zusammenbringen. Es ist spannend, alte Konzepte in neuen Feldern weiterzuentwickeln. Die Arbeit an der Grenze – auch zwischen den Disziplinen – ist besonders produktiv.

Interview: Frauke Adesiyan
Foto: Heide Fest

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