Vertrauensverlust in die Lokalpolitik? – Studierende forschen zu sozialen und politischen Einstellungen in Falkenhagen

Seit zwei Semestern forschen Studierende am Viadrina Institut für Europa-Studien (IFES) im Rahmen eines Kolloquiums in der Brandenburger Gemeinde Falkenhagen (Mark) zu den sozialen Lebenslagen der Bewohnerinnen und Bewohner. IFES-Leiter Prof. Dr. Sascha Münnich berichtete am 25. Januar 2023 in einem Werkstattbericht über die Herausforderungen des Lehrforschungsprojektes und erste Erkenntnisse.

Es ist ein besonderes Lehrforschungsprojekt, das beinahe direkt vor der Haustür der Viadrina stattgefunden hat. Und es ist noch nicht vorbei. „Wir stecken mitten in der Auswertung der qualitativen Interviews“, erklärt Prof. Dr. Sascha Münnich. Interessierte sind online und live im Raum im Logenhaus, um sich über die vorläufigen Ergebnisse, frisch aus der Brandenburger Gemeinde Falkenhagen, zu informieren.

Die Initiative für das Projekt, das in einem Kolloquium über mehrere Semester unter Leitung von Münnich und Jonas Rietschel vom IFES mündete, kam vom Gemeinderat Falkenhagens. „Wir verlieren womöglich den Kontakt zu unseren Einwohner:innen“, lautete sein Hilferuf damals. Gemeinderatsmitglieder und Bürgermeisterin Bärbel Mede fragten bei den Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern des IFES an, ob diese systematisch und objektiv untersuchen könnten, was die Falkenhagener umtreibt, was sie über die lokale Politik denken, was sie ablehnen, warum sie sich vielleicht von der Politik abgewendet haben und wie sie sich ihre Zukunft vorstellen.

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Kennenlernen vor dem Start der Befragung: Im Sommersemester 2022 trafen sich Studierende, Lehrende und Falkenhagener zu Kaffee und Kuchen vor Ort auf einem Gutshof. Foto: IFES


700 Einwohnerinnen und Einwohner zählt die Gemeinde mit den drei Ortsteilen – eine Größenordnung, die eine Vollerhebung möglich machte, betont Sascha Münnich. Hinter dem Wort „Vollerhebung“ steckt viel Aufwand und Engagement von Lehrenden und Studierenden: „Um innerhalb des vierstündigen Kolloquiums mit der Seminargruppe nach Falkenhagen und zurückzukommen, mussten wir einen Reisebus chartern“, erzählt Sascha Münnich. Für die quantitative Befragung mussten die anfangs nur acht Studierenden weite Wege fahren und laufen, um auch in wirklich jeden Briefkasten einen Umschlag stecken zu können. Der Fragebogen konnte auch digital ausgefüllt werden, doch die postalische Variante sei angesichts der Altersstruktur ebenso sinnvoll gewesen, so der Soziologe.

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Vollerhebung bedeutet viel Arbeit: 700 Fragebögen mussten eingetütet werden. Foto: IFES


Bevor die wissenschaftliche Umfrage überhaupt starten konnte, wurden vertrauensbildende Maßnahmen ergriffen: erst einmal nur hinfahren und sich kennenlernen. Wichtig sei später auch die Abgrenzung vom Gemeinderat gewesen: „Wir haben die Befragungen anonymisiert durchgeführt; der Gemeinderat wird zudem keine Rohdaten zu Gesicht bekommen.“ Dieses Versprechen sei umso wichtiger, je mehr die Menschen nach ihrer ungefilterten Meinung zur Lokalpolitik befragt wurden. „Natürlich sind solche Erhebungen durch gegenseitige Erwartungshaltungen manipuliert, aber das fängt man in qualitativen Interviews auf, indem man auch die Gesprächssituation aufzeichnet.“

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Zu Fuß durch die Gemeinde: Die Fragebögen sollten in wirklich jedem Briefkasten in den drei Ortsteilen ankommen. Foto: IFES


Die Studierenden begannen im Sommersemester 2022 mit der Erarbeitung der Fragebögen. Die 50 Fragen drehten sich um drei Kernthemen: soziale Kontakte und Beziehungen, politische Einstellung und Sozialpolitik. Von den 700 verteilten Fragebögen kamen 140 beantwortet zurück – keine schlechte Quote für solch ein „Experiment“, so Münnich. Im zweiten Schritt führten mittlerweile 20 Studierende im Wintersemester 2022/23 etwa jeweils 90-minütige Interviews mit Falkenhagenerinnen und Falkenhagenern, die sich dazu im Fragebogen bereit erklärt hatten.

Von Beginn an dabei war Viadrina-Student Maximilian Christ. Abgesehen von einer leichten Unsicherheit, was ihn wohl „dort draußen“ erwarten würde, zieht er ein positives Fazit seiner Feldstudie: „Begrüßt haben mich freundliche, aufgeschlossene Personen, die ebenso sehr daran interessiert waren, ihre Eindrücke zu teilen, als zu erfahren, was unser Interesse ist. Von Jung bis Alt durften wir es uns in den Küchen oder Wohnzimmern gemütlich machen, haben Tee und Kekse serviert bekommen und über das Leben in Falkenhagen, über Politik, Natur, Freunde, die Vergangenheit und Zukunft gesprochen.“ Auch für Studentin Maren Romstedt war und ist das Lehrforschungsprojekt eine besondere Gelegenheit gewesen. „Es war sehr bereichernd, die sozialwissenschaftlichen Methoden direkt anwenden zu können, um sie so besser zu verstehen“, berichtet sie. Auch für die Viadrina sei es ein Mehrwert, im lokalen Umfeld zu forschen. „Die Auseinandersetzung mit den Orten drumherum in Brandenburg ist sehr spannend und ebenso interessant war es, zu erfahren, wie die Viadrina dort wahrgenommen wird“, erzählt Romstedt, die als studentische Hilfskraft bei Sascha Münnich mitten in der Auswertung der Interviews steckt.

Die ersten Ergebnisse aus der quantitativen Befragung wurden bereits grafisch aufgearbeitet und methodisch interpretiert. Sie wiesen schließlich auch den Weg, bei welchen Themen in den Interviews nochmals stärker nachgehakt werden sollte. „Letztlich sei genau das die Stärke der Sozialforschung“, so Münnich. „Wir sind die besten in der Mythenzerstörung.“ Etwa zum Thema politische Einstellung: die Forschenden könnten erst in der ausführlicheren Befragung von Menschen verstehen, was die Beweggründe sind, sich so oder so zu verhalten. In Falkenhagen ist beispielsweise ein Solarpark, der gebaut werden soll, ein polarisierendes Thema. Vordergründig lehnen ihn viele mit dem Hinweis ab, die Solarmodule würden die Landschaft verschandeln. Frage man näher und „cleverer“, stelle sich heraus, dass die Entscheidung für den Bau des Solarparktes über die Köpfe der Falkenhagener Bevölkerung hinweg gefallen sei. „Oft ist der Vertrauensverlust in politische Institutionen mit negativen Erlebnissen in der persönlichen Biografie des Einzelnen verbunden“, so ein Resümee Sascha Münnichs. Weitere Forschungsergebnisse sollen im Sommersemester 2023 publiziert werden.

(HST)

 

 

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