„Ich wurde zum Subjekt meiner eigenen Forschung“ – Gender-, Exil- und Grenzforscherin Dr. Latife Akyüz über das Verbundprojekt RESIST

Wie wird Anti-Gender-Politik in Europa gemacht und welchen Widerstand entwickeln betroffene Gruppen? Das erforscht ein Konsortium von zehn europäischen Forschungseinrichtungen im Rahmen des Horizon-Europe-Projektes RESIST (Fostering Queer Feminist Intersectional Resistances against Transnational Anti-Gender Politics). Die Viadrina-Soziologin Dr. Latife Akyüz beschäftigt sich dabei mit der transnationalen Perspektive von Menschen, die aufgrund von Anti-Gender-Politik ihr Land verlassen mussten – und berührt damit auch ihren persönlichen Lebensweg.

Dass Latife Akyüz seit knapp sieben Jahren in Deutschland und seit vergangenem Jahr an der Viadrina arbeitet, hat mit ihrem Berufsverständnis zu tun. „Als Sozialwissenschaftlerin ist es meine Verantwortung, die Wahrheit zu sagen, und wenn etwas schiefläuft, dann müssen wir darüber reden“, sagt sie in ihrem Büro im Viadrina-Hauptgebäude. Von dieser Überzeugung getrieben, gehörte sie im Januar 2016 zu einer Gruppe von weit über 1.000 türkischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die eine Petition gegen das militärische Vorgehen der Türkei im Südosten des Landes unterschrieben haben. Die Reaktion des türkischen Staates auf die „Academics for Peace“ fiel hart aus. „Wir hatten damit gerechnet, dass es Disziplinarmaßnahmen geben würde, aber die Reaktion war schlimmer“, sagt Latife Akyüz, die damals an einer jungen Universität zwischen Istanbul und Ankara den Fachbereich Soziologie aufbaute. Sie wurde suspendiert, ihr Pass eingezogen, die wissenschaftliche Karriere beendet. Latife Akyüz nennt es eine Lynch-Kampagne, die schließlich in der Erkenntnis mündet: „Ich muss das Land verlassen, um zu überleben.“  Mit einem Mal war die Gender-, Grenz- und Migrationsforscherin selbst eine flüchtende Wissenschaftlerin. „Ich wurde zum Subjekt meiner eigenen Forschung“, bringt sie es auf den Punkt. Dass sie die Reaktionen des türkischen Staates derart hart getroffen haben, liegt ihrer Überzeugung nach auch daran, dass sie damals eine alleinstehende Frau gewesen sei. „Auch was damals passiert ist, hat mit Anti-Gender-Politik zu tun“, sagt sie rückblickend.

Akyuez_Latife_EUV3127

Mit dieser Aussage ist sie direkt im Zentrum ihrer aktuellen Forschung. Gemeinsam mit neun europäischen Kolleginnen und Kollegen erforscht sie in den kommenden vier Jahren, wie in Europa Anti-Gender-Politik gemacht wird; also Politik, die aufgrund des Geschlechtes und der sexuellen Orientierung diskriminiert, die Selbstbestimmung einschränkt und Gleichberechtigung verhindert. „Es ist wichtig zu verstehen, dass das nicht nur ein Problem von autoritären, rechten Regierungen ist. Das gibt es überall in unserem Leben, auch in Westeuropa“, sagt sie und verweist auf das Zusammenspiel mit weiteren Faktoren, etwa der Herkunft und der sozialen Stellung. Das Forschungsprojekt will dabei nicht allein die Entstehung und Wirkung dieser Politik beschreiben. Rund 40 zivilgesellschaftliche Organisationen sollen mit einbezogen werden – um einerseits Wissen und Erfahrungen zu sammeln und andererseits das neu produzierte Wissen auch wieder zugänglich und nutzbar zu machen. „Die Frage ist: Wie können wir ein transnationales, intersektionales, queeres, feministisches Netzwerk unterstützen? Also genau diejenigen verbinden, die unter der Anti-Gender-Politik leiden“, so Latife Akyüz.

Dass sie sieben Jahre nach ihrer Flucht aus der Türkei und dem damit verbundenen Einschnitt in ihre Karriere Teil eines mit mehreren Millionen Euro geförderten Forschungsprojektes ist, ist für Latife Akyüz ein großes Glück. „Nur wenige von uns Academics for Peace konnten ihre Arbeit fortführen“, weiß sie. Sie selbst arbeitete zunächst als Stipendiatin der Philipp Schwartz-Initiative für „Scholars at Risk“ an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, wo sie von der heutigen Viadrina-Soziologin Prof. Dr. Kira Kosnick aufgenommen wurde. Auf ein Einstein-Stipendium an der Humboldt-Universität zu Berlin folgte dann die Stelle an der Europa-Universität Viadrina.  

Sowohl mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit als auch mit ehrenamtlichem Engagement setzt sich Latife Akyüz weiterhin für Kolleginnen und Kollegen ein, die aufgrund ihrer Meinungsäußerungen verfolgt und schikaniert werden. „Da geht es nicht nur um akademische Freiheit, es geht um Solidarität“, betont sie. Im deutschen Wissenschaftssystem sei man über ihre engagierte Haltung mitunter überrascht. „Hier bist du entweder Wissenschaftlerin oder Aktivistin. Wenn du dich politisch engagierst, denken viele, deine wissenschaftliche Arbeit sei weniger wertvoll“, hat sie beobachtet. Doch die Einstellung ändere sich, – so ihre Erfahrung auch in dem aktuellen Projekt RESIST. Sie sagt voller Überzeugung: „Mein Verständnis von Wissenschaft ist es, etwas zur Veränderung beizutragen.“

(FA)

RESIST – „Fostering Queer Feminist Intersectional Resistances against Transnational Anti-Gender Politics“
Das Forschungsprojekt RESIST befasst sich mit „geschlechterfeindlicher“ Politik, die Gleichberechtigung, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt sowie die Legitimität kritischen Wissens im heutigen Europa gefährdet. Neben dem Interesse dafür, wie diese Politik entsteht und wahrgenommen wird, geht es darum, feministische und queere Praktiken des Widerstandes kennenzulernen und zu erfahren, wie sie in acht zu untersuchenden Ländern funktionieren: Irland, Spanien, Belarus, Frankreich, Schweiz, Polen, Deutschland, Griechenland, sowie transnational. Beteiligt sind neben der Viadrina Forschende von der Universität Paris 1 Panthéon-Sorbonne, der Hochschule Luzern, dem Feminist Autonomous Centre for Research in Athen, der Universität Lausanne, der Universität Fribourg, der Edinburgh Napier Universität, der Maynooth Universität und der Universität Pompeu Fabra.
Die Forschung wird als Horizon Europe-Projekt von der Europäischen Union mit rund 4,5 Millionen Euro gefördert.

Kontakt

Abteilung für
Hochschulkommunikation
Tel +49 335 5534 4515
presse@europa-uni.de

Sitz:
Hauptgebäude
Räume 114-117, 102

Postanschrift:
Große Scharrnstraße 59
15230 Frankfurt (Oder)