„Überrascht, wie sicht- und hörbar die Ost-West-Bezüge waren" – Prof. Dr. Kerstin Brückweh zur Professorin für Historische Stadt- und Raumforschung ernannt

Die Historikerin Prof. Dr. Kerstin Brückweh wurde am 27. September 2023 zur Professorin für Historische Stadt- und Raumforschung ernannt. Die Professur ist Teil eines Kooperationsvertrages mit dem Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner. Im Interview stellt sie sich vor und spricht über den in der Brandenburger Lebenswelt nachklingenden Systemwechsel sowie den geschützten Raum der Forschung in aufgeheizten Debatten.

Frau Brückweh, worauf freuen Sie sich an der Viadrina und am IRS?

Wenn ich auf die Rahmenbedingungen blicke, dann waren meine bisherigen beruflichen Stationen durch zu viel oder zu wenig Lehre und Kontakt zu Studentinnen und Studenten gekennzeichnet. Die gemeinsame Berufung von Viadrina und IRS scheint mir die ideale Kombination von Forschung und Lehre. Inhaltlich betrachtet freue ich mich darauf, einen klaren Fokus innerhalb meiner bisher sehr breiten Forschung zu setzen. Wichtig bleibt die lange Geschichte der „Wende“, zu der ich am Leibniz-Institut für Zeithistorische Forschung in Potsdam eine Forschungsgruppe geleitet habe. Die sozialräumliche Transformation im langen Zeitraum vor, während und nach 1989 spielt auch am IRS eine zentrale Rolle.

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Prof. Dr. Kerstin Brückweh bei ihrer Ernennung mit Prof. Dr. Timm Beichelt, Dekan der Kulturwissenschaftlichen Fakultät, Prof. Dr. Oliver Ibert, Direktor des IRS, und Viadrina-Präsident Prof. Dr. Eduard Mühle (von rechts).


 

Was verbindet Sie mit der Region (Ost)-Brandenburg?

Vor zehn Jahren bin ich mit meiner Familie aus der Londoner Innenstadt nach Brandenburg gezogen – eine große Umstellung, die sich auch in meinen Forschungsthemen niedergeschlagen hat. In Brandenburg hat mich überrascht, wie sicht- und hörbar die Ost-West-Bezüge im Jahr 2013 waren: sichtbar an Häusern und anderen materiellen Hinterlassenschaften und hörbar in den Erzählungen. Ich habe mich deshalb mit dem Zusammenhang von Systemwechsel und Lebenswelt in der langen Perspektive über die Zäsur von 1989/90 hinaus beschäftigt. Ich freue mich, jetzt mit dem Fokus auf Frankfurt (Oder) und Erkner für mich neue Räume Brandenburgs zu erschließen. Ganz besonders interessiert mich die Nähe zu Polen – tatsächlich waren die Lage und das Profil der Viadrina ein entscheidender Punkt, warum ich mich überhaupt auf die Stelle beworben habe.

Welches wissenschaftliche Interesse verbinden Sie mit der Beschäftigung mit dem Systemwechsel von 1989/1990?

Als Historikerin frage ich danach, wofür (Ost)Deutschland in dieser Umbruchszeit eigentlich steht. Was lässt sich an diesem Raum systematisch für Gesellschaften im Wandel erforschen? Welche Rolle spielen Systembrüche? Der Vorschlag, Ostdeutschland als Fall zu betrachten, kommt in öffentlich aufgeheizten Debatten nicht gut an, weil es entweder nach einem pathologischen Fall klingt oder weil ostdeutschen Erfahrungen damit scheinbar das Besondere genommen wird. Deshalb braucht es hier für die Erforschung einen geschützten Raum und damit auch eine Erweiterung in zeitlicher und räumlicher Hinsicht: Wo gibt es Ähnlichkeiten zu Gesellschaften, die sich nach politischen oder wirtschaftlichen Zäsuren neu ordnen mussten – etwa nach 1945, aber auch in anderen Regionen der Welt?

Können Sie schon etwas über konkrete Vorhaben an der Viadrina und dem IRS verraten?

Ich möchte die Viadrina und das IRS gerne bald über ein (Tagungs)Thema näher miteinander ins Gespräch bringen, das mir bei meinen Forschungen zur Geschichte des Wohneigentums in der DDR aufgefallen ist. Vereinfacht gesagt, wird häufig der rechtliche Anspruch auf Eigentum – meist im Grundbuch – als höchste Instanz gewertet, um Eigentumsverhältnisse zu klären. Im Alltag hingegen nehmen Praktiken des Reparierens, Instandhaltens und Do-it-yourself viel Zeit ein, die nicht unbedingt vom Eigentümer bzw. der Eigentümerin übernommen werden, die aber bedeutend sind, um aus vier Wänden ein Heim werden zu lassen. Die Tagung soll erörtern, was aus Sicht von Bürgerinnen und Bürgern Wohneigentum legitimiert. Das schließt an aktuelle Diskussionen über Enteignungen von Immobilien an. Besonders interessant erscheint mir das aus aktueller Sicht für die Grenzregion rund um Frankfurt (Oder), inklusive Berlin, und die grenzübergreifende Tätigkeit vor allem von Handwerkern. Außerdem möchte ich gerne die Studentinnen und Studenten in die Forschung einbinden. Dafür bieten sich die Wissenschaftlichen Sammlungen mit dem Schwerpunkt Bau- und Planungsgeschichte der DDR in Erkner an und ich möchte ein an der Berliner Hochschule für Technik begonnenes Projekt fortsetzen, in dem von den persönlichen Erfahrungen der Studentinnen und Studenten ausgehend systematisch nach der Bedeutung von Räumen des Aufwachsens für Lebensverläufe gefragt wird.

Interview:Frauke Adesiyan
Foto: Heide Fest

Zur Person
Prof. Dr. Kerstin Brückweh hatte seit 2021 die Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Berliner Hochschule für Technik (BHT) inne. Zuvor war sie an den Universitäten Trier und Duisburg-Essen angestellt, leitete die Forschungsgruppe „Die lange Geschichte der ,Wende‘. Lebenswelt und Systemwechsel in Ostdeutschland vor, während und nach 1989“ am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und war Fellow am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt.
Begonnen hatte ihre wissenschaftliche Laufbahn an der Universität Bielefeld, wo sie mit der Arbeit „Mordlust. Serienmorde, Gewalt und Emotionen im 20. Jahrhundert“ promoviert hatte. Im Anschluss wechselte Prof. Dr. Kerstin Brückweh für sechs Jahre an das Deutsche Historische Institut (DHI) London. Mit der dort entstandenen Schrift „Menschen zählen. Wissensproduktion durch britische Volkszählungen und Umfragen vom 19. Jahrhundert bis ins digitale Zeitalter“ habilitierte sie sich 2013 an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.

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