Von schweren Waffen, schnellen Entscheidungen und den Pflichten der Viadrina-Studierenden – Viadrina-Preisträgerin Róża Thun hält mitreißende Europa-Rede

Eine Grundsatzrede zum Zustand der Europäischen Union hatte Róża Gräfin von Thun und Hohenstein angekündigt und das war es, was die Gäste der Viadrina-Preisverleihung am 13. Oktober 2022 im Audimax der Europa-Universität hörten. Die Abgeordnete des Europäischen Parlamentes und polnische Oppositionspolitikerin erhielt an dem Abend den 21. Viadrina-Preis. Das musikalische Kinder- und Jugendprojekt „Weimarer Dreieckchen“ wurde mit dem Förderpreis ausgezeichnet.

Róża Thun lenkte ihre Rede schnell auf die größte Herausforderung, der die EU derzeit gegenüberstehe. „Ich weiß, dass viele – besonders in Westeuropa – glauben möchten, dass dieser Krieg weit weg ist, und dass es eigentlich nicht ihr Krieg ist. Es ist wirklich höchste Zeit zu verstehen: Es ist unser Krieg! Wir sind alle von Putin angegriffen worden; unser Zusammenhalt, unsere Werte, unsere Zivilisation sind in Gefahr“, warnte sie. Róża Thun scheute dabei nicht klare Worte gegenüber der deutschen Regierung, von deren zögerlichen Waffenlieferungen für die Ukraine sie enttäuscht sei. Deutschland sei aufgrund seiner Geschichte Völkern wie dem der Ukraine verpflichtet, das im Zweiten Weltkrieg jeden fünften Menschen verloren hat. „So paradox, wie es auch klingt, jetzt besteht die Möglichkeit, Leben zu retten, gerade auch mit schweren Waffen“, sagte sie. >>>weiterlesen

Fotos: Heide Fest

Schon in den zahlreichen Interviews, die sie im Vorfeld der Preisverleihung gegeben hatte, betonte Róża Thun, dass sie diese Forderung als „überzeugte Pazifistin“ ausspreche. Eine Überzeugung, die in ihrer persönlichen Geschichte liegt. Seit ihrer Studienzeit hatte Thun die polnische Oppositionsbewegung unterstützt – zunächst in Polen, später von Deutschland aus. Die Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union bereitete sie aktiv als Direktorin der Robert-Schumann-Stiftung in Warschau mit vor. Wenige Tage nach dem EU-Beitritt Polens 2004 habe ihr 1920 geborener Vater, der vom Zweiten Weltkrieg gezeichnet war, gesagt: „Jetzt ist der Krieg endlich zu Ende, so etwas ist nie wieder möglich.“

„Wir reden heutzutage viel zu wenig vom Frieden“, befand die Politikerin, die seit 2009 im Europäischen Parlament sitzt, in einem der Interviews. Dabei seien auch die weiterführenden Herausforderungen der Europäischen Union Fragen des Friedens: Wie wollen wir Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte garantieren? Und wie das Klima retten, damit die Erde überhaupt noch als Lebensraum dienen kann? Zentral seien dabei neue Mechanismen der Entscheidungsfindung in der Europäischen Union. Ihre Lösung: das Einstimmigkeits- durch ein Mehrheitsprinzip ersetzen. „Schon jetzt gewinnen die anti-europäischen Populisten Wähler durch die Kritik an unseren zu langsamen Reaktionen und unseren zu weitgehenden Kompromissen. Europa muss schnell reagieren. Europa muss klare Lösungen haben“, forderte sie.

Unüberhörbar war in ihren Ausführungen die Überzeugung von einem geeinten, tatkräftigen Europa. Diese Überzeugung war für die Viadrina-Preis-Stiftung ausschlaggebend für die Auszeichnung, wie die geschäftsführende Viadrina-Präsidentin, Prof. Dr. Eva Kocher, in ihrer Rede betonte: „Sie haben ihr ganzes Berufsleben der Idee der europäischen Integration gewidmet. Als polnische pro-europäische Stimme tragen Sie erheblich zu einem konstruktiven deutsch-polnischen Dialog über die Zukunft Europas bei.“

Ein Dialog, bei dem Róża Thun auch die Viadrina-Studierenden in der Pflicht sieht, die mit der Preisverleihung gleichzeitig die Eröffnung des Akademischen Jahres feierten. An sie appellierte Thun: „Ihre Pflicht ist, mit dem Wissen, das Sie sich hier aneignen, mit den Erfahrungen, die Sie hier sammeln, sich zu beteiligen an der Gestaltung einer Welt, die baut und nicht zerstört, die schützt und nicht tötet, in der man spricht und zuhört und nicht schreit und droht.“

In welch frühem Alter man diesen europäischen Geist wecken kann, bewies der Preisträger des diesjährigen Förderpreises. Das Projekt „Weimarer Dreieckchen“, das deutsche, französische und polnische Kinder beim gemeinsamen Musizieren zusammenbringt, erhielt die mit 1.000 Euro dotierte Auszeichnung. Der Schirmherr des Projektes und Kinderliedermacher Rolf Zuckowski sagte in einem eingespielten Film über das Vorhaben: „Das vielbeschworene Haus Europa muss auch ein Kinderzimmer haben, daran arbeiten wir.“

Es waren nach Ende der Preisverleihung die erwachsenen Kinder von Róża Thun, die bewusstmachten, dass die europäische Verständigung tatsächlich mit den Liedern von Rolf Zuckowski beginnen kann. Während sie sich begeistert mit dem Musiker fotografieren ließen, bemerkte ihre Mutter lachend: „Er ist der Deutschlehrer meiner Kinder.“ Mit seiner Platte „Rolfs Vogelhochzeit“ hatten die beiden in Warschau die Sprache verinnerlicht. Und auch Róża Thun selbst prägt folgende Generationen. Jura-Studierende der Viadrina ließen sich nach dem Festakt Ausgaben der polnischen Verfassung signieren, schossen zahlreiche Fotos mit ihr und verwickelten sie in lange Gespräche. Offensichtlich hatten sie sich anstecken lassen von dem Enthusiasmus und dem Engagement für Europa, das die inspirierende Politikerin bei ihrem Besuch an der Viadrina verbreitet hatte.

(FA)


Mitschnitt der Preisverleihung vom 13. Oktober 2022

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