30 x Viadrina & ich – „Eine Grenzstadt war für mich genau der richtige Ort.“

In der Reihe „30 x Viadrina & ich“ erzählt Michael Baldzikowski, Lektor in Ruhestand für Englisch am Sprachenzentrum der Viadrina, von der Zeit des Aufbaus der Viadrina in der 1990er-Jahren und wie sich die Sprachkompetenz der Studierenden seit damals verändert hat. Anlässlich von 30 Jahren Europ­­­­­­­­­a-Universität berichten 30 Menschen – vom Erstsemester bis zur emeritierten Professorin – welche Rolle die Viadrina in ihrem Leben spielt.

Als Michael Baldzikowski im Oktober 1993 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an die Viadrina kam, war an der frisch gegründeten Universität alles noch im Aufbau. Improvisationstalent war gefragt, unterrichtet wurde dort, wo ein Raum frei war: im Oderturm, im ehemaligen Stasi-Gebäude an der heutigen Robert-Havemann-Straße oder auch in einem heruntergekommenen Speicherhaus in der Nähe des Kartoffelhauses, in dem die Studierenden nur über eine steile Stiege in die Unterrichtsräume gelangten. Doch genau dieses Unfertige interessierte den jungen US-Amerikaner: „Der Reiz am Anfang war, dass man hier etwas aufbauen konnte. Wir hatten nichts, als wir anfingen: kein Papier, kein Schreibzeug, keine Prüfungsordnung. Die mussten wir erst schreiben. Alle zwei Tage kam etwas Neues, das man besprechen, und Herausforderungen, die man überwinden musste. Dass das hier etwas Neues ist, war das beherrschende Gefühl unter den Mitarbeitern und den Studierenden. Die ersten acht Jahre an der Viadrina sind unheimlich schnell vergangen.“

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Der aus Milwaukee, Wisconsin, stammende Englischlektor Michael Baldzikowski lebt inzwischen seit fast 30 Jahren in Frankfurt (Oder). – Foto: Heide Fest.


Die Grenzstadt Frankfurt (Oder) sei genau der richtige Ort für ihn gewesen, so Baldzikowski. Auch wenn er sich damals nicht vorstellen konnte, das ganze Leben hier zu verbringen und Frankfurt (Oder) bis zu diesem Zeitpunkt nur als „Durchreiseort“ nach Polen kannte, wo er in Krakau studiert und später auch in Katowice Englisch unterrichtet hatte. „Als mir die Stelle am Sprachenzentrum angeboten wurde, habe ich gezögert: Wenn ich eine feste Stelle annehme, bin ich dort gebunden, dachte ich.“ Lachend fügt er hinzu: „Und genau so war es: 29 Jahre später bin ich immer noch in Frankfurt (Oder).“ Das habe auch am sozialen Gefüge gelegen, erzählt Baldzikowski. Viele Juristinnen und Juristen, Beamte und Angestellte aus Westdeutschland, Ärzte aus der ganzen Welt seien nach der Wende in die Stadt gezogen. „Die haben Kontakt gesucht“, sagt er. „Und wir auch. Wir hatten ein kleines Kind und über die Krabbelgruppe hat man schnell Anschluss gefunden. Schon bald hatten wir einen großen Bekanntenkreis: Menschen aus dem Westen, aber auch unsere neuen Freunde aus Frankfurt (Oder). Am Anfang gab es dieses Ossi-Wessi-Problem, aber das betraf uns als Amerikaner nicht. Wir waren quasi neutral.“

Die Europa-Universität habe er in den Anfangsjahren stärker als heute als „Tor zum Osten“ wahrgenommen, erklärt Baldzikowski: „Bis Polen in die EU eingetreten ist, war die Viadrina die einzige Universität in Deutschland, an der junge Polinnen und Polen ohne weiteres studieren konnten. Ich hatte das Gefühl, das wir etwas Besonderes waren: Ein Drittel der Studierenden kam aus Polen und der Spracherwerb war als wichtiger Bestandteil in der Prüfungsordnung verankert. Wir waren wirklich eine Ost-West-Universität. Jetzt ist es insgesamt viel internationaler, aber weniger östlich, die Anforderungen an die Sprachkompetenz sind den Fakultäten weniger wichtig. Die Viadrina ist inzwischen eine normale, kleine deutsche Universität.“

In seinen Englischkursen kurz nach der Wende konnte Baldzikowski, der selbst polnische Vorfahren hat, die Auswirkungen von drei verschiedenen Schul- und Bildungssystemen beobachten: Es gab die Gruppe der Westdeutschen, von denen viele von der Zentralstelle zur Studienplatzvergabe an die Oder geschickt wurden und viele schon recht gut Englisch konnten; die Ostdeutschen, die eine sozialistische, staatsbürgerliche Schulbildung hinter sich hatten und wenig Englisch sprachen; und schließlich die Gruppe der polnischen Studierenden, die Englisch, wenn überhaupt, privat gelernt hatten. „Die Studenten hatten unterschiedliche Unterrichtsstile erlebt. Um als Gruppe arbeiten zu können, musste ich das irgendwie zusammenbringen. Das war sehr interessant. Ich will keine Vorurteile reproduzieren, aber einige waren sehr still, haben nichts gesagt, wie in einer Vorlesung, andere haben gelernt mitzuarbeiten, wieder andere waren bereit alles zu tun, was der Lehrer wollte.“

Sprachenlernen soll Spaß machen

Als das Sprachenzentrum der Viadrina 1993 seine Arbeit aufnahm, konnten die Studierenden lediglich fünf Sprachen belegen: Englisch, Polnisch, Deutsch als Fremdsprache, Russisch und Französisch. Heute sind es fast doppelt so viele. Geändert hat sich inzwischen auch das Leistungsniveau. In den unteren Levels der Sprachkurse im Englischen seien inzwischen fast nur noch Studierende, deren Muttersprache nicht Deutsch sei, berichtet Baldzikowski.

Seit einem Jahr ist der Linguist nun im Ruhestand. Als ein Mensch, der seine Tätigkeit als Lehrer mit großer Leidenschaft ausgeführt hat, fiel ihm der Abschied von der Universität nicht leicht. „Das Unterrichten fehlt mir. Ich arbeite sehr gern mit jungen Menschen, wollte immer, dass meine Studierenden den Unterricht bei mir genießen und Spaß haben“, sagt Baldzikowski. Sein Vorbild sei ein ehemaliger Deutschlehrer gewesen, der seinen Unterricht locker und witzig gestaltet hat: „Ich glaube, ich habe ihn ein wenig imitiert, Witze und kleine Anekdoten im Unterricht erzählt. Bei einigen kam das am Anfang nicht so gut an, sie fanden das unseriös. Aber meine Studierenden gaben mir die Rückmeldung, dass sie ohne Stress- oder Angstgefühle in meine Kurse kommen. Das ist wichtig, denn Sprachenlernen sollte Freude machen und nicht bedrohlich sein.“ 

Ganz auf das Unterrichten verzichten muss Michael Baldzikowski aber nicht: Als Lehrbeauftragter unterrichtet er auch heute noch den einen oder anderen Kurs an der Viadrina. „Ohne den lästigen Verwaltungspapierkram macht das sogar noch mehr Spaß!“, sagt er augenzwinkernd.

(YM, FA)

Dieser Text ist der 22. Teil der Serie „30 x Viadrina & ich“.
Die bereits erschienenen Beiträge können hier nachgelesen werden. In den nächsten Beiträgen erzählen Viadrina-Alumna Sophie Falsini und die Studentin Pola Ostałowska von ihren Erfahrungen. Die Texte erscheinen jeweils in der Rubrik „30 Jahre Viadrina“ im Viadrina-Logbuch.

Steckbrief

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Name:
Michael Baldzikowski

An der Viadrina war ich:
von 1993 bis 2021

Das habe ich an der Viadrina gemacht:
Lektor für Englisch am Sprachenzentrum

Die Viadrina ist für mich:
Familiär, international, berufliche Heimat

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