30 x Viadrina & ich: „Wenn ich etwas sehe, das wächst, habe ich gern einen Anteil daran“

In der Reihe „30 x Viadrina & ich“ erzählt der Literatur- und Kulturhistoriker Dr. Gautam Chakrabarti von seinem Leben und Arbeiten zwischen allen Stühlen und wie die Viadrina in Corona-Zeiten zu einer Rettungsinsel wurde. Anlässlich von 30 Jahren Europa-Universität berichten 30 Menschen – vom Erstsemester bis zur emeritierten Professorin – welche Rolle die Viadrina in ihrem Leben spielt.

Zwischen den Disziplinen, zwischen verschiedenen Ländern, kurz: „zwischen den Stühlen“ – so beschreibt sich Dr. Gautam Chakrabarti in vielerlei Hinsicht. Seit Januar 2020 lehrt und forscht er an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität und fühlt sich hier mit seinem „Dazwischen-Sein“ genau richtig. Sein Forschungsinteresse ist der Kosmopolitismus, das Weltbürgertum, aus einer biografischen, mikrohistorischen Perspektive – auch hier ein Dazwischen: zwischen globaler und individueller Herangehensweise. Er ist überzeugt, dass man die Idee des Kosmopolitismus nicht verstehen kann, ohne auf individuelle Geschichten zu schauen. Seine eigene passt gut in diesen Blick auf die Welt.

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Beeindruckt von der Geschichte der Viadrina: Dr. Gautam Chakrabarti                      Foto: Heide Fest


Aufgewachsen ist Gautam Chakrabarti im indischen Kalkutta. Seine Großeltern stammen aus Chittagong im heutigen Bangladesch. Und so ist Gautam Chakrabarti schon in früher Kindheit von mehreren Sprachen umgeben und von vielen Kulturen beeinflusst. Nicht zuletzt von seinem Großvater, den er einen „Deutschland-Enthusiasten“ nennt. Gemeinsam jubelten sie 1989 über den Fall der Berliner Mauer; der Schuljunge Gautam führte damals ein kleines rotes Notizbuch bei sich, in das er sich die Namen und Funktionen deutscher Politiker notierte. „Walter Momper, Hans-Dietrich Genscher… – ich kannte all diese Namen als Kind und war sehr früh an Weltpolitik interessiert“, erinnert sich Chakrabarti mehr als 30 Jahre später. Dass er einst in dem Land zu Hause sein wird, das er damals aus der Ferne bestaunte, war nicht abzusehen. „Eigentlich wollte ich nie weg aus Indien, ich bin Einzelkind und sehr eng mit meinen Eltern“, erzählt er. Doch im indischen Wissenschaftsbetrieb kam er nach seinem Masterabschluss in Literaturwissenschaften nicht so weiter, wie er gern wollte. Im Sommer 2009 brach er zu mehreren Vorträgen nach Europa auf, sprach an Universitäten in Tartu, Prag und Moskau und landete schließlich in Berlin, wo er an der Freien Universität seinen Doktorvater fand und über europäisches Theater in Indien promovierte.

„Viele meiner nichtdeutschen akademischen Freunde denken, dass ich in Deutschland meine Zeit verschwende – das Bildungssystem hier ist anders als in der anglophonen Welt. Aber ich habe hier viel gelernt, tolle Menschen kennengelernt und meine Promotion geschafft“, sagt er. Nun arbeitet er, betreut von Prof. Dr. Annette Werberger, an seiner Habilitation und hat sich auch unabhängig von Plänen für seine wissenschaftliche Karriere mit Deutschland und vor allem mit Brandenburg angefreundet. „Hier in Frankfurt (Oder), an der Grenze, wächst etwas. Ihr wollt etwas Neues schaffen“, hat er beobachtet und verweist auf die European New School und die geplante Bewerbung als Standort für das „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“.  An der Viadrina beeindruckt ihn die Geschichte von Schließung und Neuanfang: „Für mich ist die Viadrina ein Leuchtturm und ein Beispiel dafür, was wahr werden kann, wenn man an etwas Positives glaubt und daran arbeitet.“ Durch diese Geschichte stehe die Viadrina als Metapher für die Wiedervereinigung Deutschlands und die Entwicklung in Osteuropa, findet Chakrabarti. Er fühlt sich wohl an diesem Ort, der für Aufbruch steht. „Wenn ich etwas sehe, das wächst, habe ich gern einen Anteil daran“, sagt er.

Dass er an der Viadrina gut aufgehoben ist, haben ihn auch harte Corona-Monate spüren lassen, in denen er seinen Eltern in Indien beistehen musste. Sie waren mit schweren Verläufen an der Delta-Variante des Virus‘ erkrankt und auf der Intensivstation. „Ich hatte gerade einen großen Projektantrag eingereicht, da musste ich im April 2021 nach Indien reisen, um bei ihnen zu sein.“ Er organisierte die nötige Versorgung in Kliniken, und versuchte trotz strikter Verbote und der eigenen Angst, sich anzustecken, den Kontakt zu halten. „Ich habe in dieser Zeit so viele Leichen gesehen“, erinnert er sich voller Grauen. Als er den Flug zurück nach Deutschland nehmen konnte, fühlte er sich sicher. „Ich war so froh, diese Rettungsinsel zu haben“, sagt er rückblickend. Auch in den Monaten danach, in denen er die Betreuung der Eltern telefonisch von Deutschland aus organisierte und voller Sorge war, zeigten Kolleginnen und Kollegen sowie seine Studierenden viel Verständnis und Unterstützung. „Ohne das wäre es viel schwerer geworden“, sagt Chakrabarti.

Inzwischen kann sich Gautam Chakrabarti vorstellen, in Brandenburg sesshaft zu werden. Noch pendelt er zu seiner Wohnung nach Berlin, doch erst kürzlich im Schienenersatzverkehr habe er eine „nette Dame“ neben sich danach gefragt, wo man denn im Frankfurter Umland gut leben könnte. „Ich bin irgendwie ein Brandenburger, ein Preuße, ein Ostdeutscher“, sagt er. Es ist eine Gegend, in der der Kosmopolit, der immer irgendwie dazwischen ist, zu Hause sein könnte.

(FA)

Dieser Text ist der 19. Teil der Serie „30 x Viadrina & ich“.
Die bereits erschienenen Beiträge können hier nachgelesen werden. In den nächsten Beiträgen erzählen Studentin und Künstlerin Lava Mouslam und Prof. Dr. Jan-Hendrik Passoth von der ENS von ihren Erfahrungen. Die Texte erscheinen jeweils in der Rubrik „30 Jahre Viadrina“ im Viadrina-Logbuch.

Steckbrief

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Name:
Gautam Chakrabarti

An der Viadrina bin ich seit:
Januar 2020.

Was ich hier mache:
Ich lehre und forsche an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät.

Die Viadrina ist für mich:
eine Metapher für die deutsche Wiedervereinigung und das europäische Zusammensein.

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