Banner Viadrina

Deutsch - polnisch - russisches
wissenschaftliches Kooperationsprojekt

Bericht zur 2. Konferenz in Toruń 2011

Verfasser: Martin Jeske, Europa-Universität Viadrina Frankfurt/ Oder, jeskemartin@web.de

Die zweite Konferenz des deutsch-polnisch-russischen Trialogs zum Thema „Grenzen und ihre Überwindung in  der Geschichte und der zeitgenössischen Kultur“ fand vom 25.- 27. September 2011 an der NikolausKopernikus-Universität in Toruń statt. Schwerpunkt der interdisziplinär ausgelegten Konferenz war ein historischer Raum zwischen Oder und Memel, der seine Wurzeln in der polnischen, russischen und deutschen  Kultur hat. Hierbei wurde das Thema Grenzen in drei Sektionen behandelt: 1. Kulturelle und individuelle  Identität der Grenzräume; 2. Globalisierung und grenzüberschreitende Kommunikation; 3. Die Grenze als „Mauer“ – Vergangenheit ohne Wiederkehr? Insgesamt wurden auf der 2. Trialog-Konferenz 20 Vorträge in  russischer, deutscher und polnischer Sprache von Professoren, Dozenten und Nachwuchswissenschaftlern der  Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń und der Föderalen  Baltischen Kant-Universität Kaliningrad vorgetragen.

Die Durchführung der Konferenz wurde durch die Förderung des Auswärtigen Amtes und des DAAD sowie  durch die Projektleitung unter OLGA KURILO (Berlin und Frankfurt an der Oder) und Organisation vor Ort unter Jarosław Dumanowski (Toruń) ermöglicht.

Gastgeber und Projektkoordinator der Nikolaus-Kopernikus Universität Toruń, Jarosław Dumanowski (Toruń), eröffnete die Konferenz mit der Frage, was genau Polen, Russland und Deutschland vereint und  überhaupt dazu geführt habe, dass Grenzen entstanden? Zwischen Frankfurt (Oder) und Toruń seien die Grenzen längst gefallen, während die mit dem Kaliningrader Gebiet noch bestehen. Toruń als Stadt mit historischer  Grenzerfahrung sei ein geeigneter Ort, um diese und andere Fragen zu diskutieren.

Insgesamt wurden auf der 2. Trialog-Konferenz 20 Vorträge in russischer, deutscher und polnischer Sprache von Professoren, Dozenten und Nachwuchswissenschaftlern der drei Universitäten vorgetragen, welche sich interdisziplinär mit Grenzen und ihrer Überwindung in Vergangenheit und Gegenwart beschäftigten.

Eine Einführung zum Konferenzthema gab Ralpf Schattkowsky (Rostock und Toruń). Er machte dabei  auf die besondere Bedeutung der Grenzen für die ostmitteleuropäische Region des Trialog-Raumes aufmerksam.  Schließlich seien dort extreme Erfahrungen mit „wandernden Grenzen“ gemacht worden. Im 21. Jahrhundert würde über Grenzen jedoch neu nachgedacht. Heute ginge es um Selbstbegrenzung in einer entgrenzten Welt  und um Strategien, die Beziehungen von Zivilgesellschaft und Staat neu zu definieren. Ziel sei es, diesbezüglich  Aufmerksamkeiten zu schaffen und durch interdisziplinäre Arbeit gesellschaftliche Entwicklungen in voller  Breite abzubilden. 

„Kulturelle und individuelle Identität der Grenzräume“ war das Thema der ersten Sektion, wobei Marek Szulakiewicz (Toruń) den ersten Schritt machte, indem er das Problem der Grenzen in der zeitgenössischen  Kultur thematisierte und den Aspekt der sozialen Grenzen besonders hervorhob. Im Mittelpunkt stand dabei die Funktionsweise, wie der Mensch den Fremden als Mitmensch begreifen kann und welche Grenzen dabei  überschritten werden müssen.

Wie die Grenze am Bahnhof Eydkuhnen/ Wirballen über den Zeitraum eines Jahrhunderts überschritten wurde, berichtete Karl Schlögel (Berlin und Frankfurt/ Oder). An der Grenze zwischen Deutschem Reich und Russischem Reich, heute an der Grenze zwischen Kaliningrader Gebiet und  Litauen, wurde der Grenzbahnhof als ein hervorragendes Beispiel für die Wandlung der Bedeutung von Grenze und Prozeduren der Grenzüberschreitung vorgestellt.

Einen weniger eindeutigen Grenzort behandelte hingegen Aleksej Kuznecov (Kaliningrad). Er ging auf die in der Literatur behandelte Frage nach Russlands Platz zwischen Europa und Asien ein und gab einen umfangreichen Überblick. Er hob hervor, dass die Frage nach der  Grenze in der Entwicklung des russischen Staates von großer Bedeutung gewesen sei, wie die russische Sprache bezeuge. Laut Puschkin habe das Geheimnis der Grenze in ihrer Unbeständigkeit gelegen, denn das Russische Reich hatte sich in den vorhergegangenen Jahrhunderten weit nach Asien ausgedehnt. Fedor Dostojewskij sprach letztendlich von zwei Heimaten: der alten „Rus’“ und Europa.

Von den Unstimmigkeiten zwischen den zwei Deutschlands in Bezug auf das Problem der Oder-Neiße Grenze, sprach Ralph Schattkowsky (Rostock und Toruń). Der Beitrag behandelte die Oder-Neiße-Frage in ihren ambivalenten Bedeutungen für die  Siegermächte und die beiden deutschen Staaten vor dem Hintergrund der deutschen Teilung und des Kalten Krieges. Er erklärte, dass mit dem Grenzvertrag von Zgorzelec 1950, der deutsche „Grenzstaat“ einen formalen  Schlussstrich unter die Debatte um die Oder-Neiße-Grenze gezogen und für sich in Anspruch genommen habe,  eine gesamtdeutsche Regelung bereitet zu haben.

Auch im Kaliningrader Gebiet hat die Grenze eine besondere  Bedeutung. Vladimir Krivoseev (Kaliningrad) referierte über die spezifische Identität der Kaliningrader als Russen auf exterritorialem Gebiet. Er hob hervor, dass der Untergang der UdSSR, die Entstehung der unmittelbaren EU-Nachbarschaft, Migration und die Eigentümlichkeit der regionalen Wirtschaft besonderen  Einfluss auf die Mentalität der Kaliningrader hätten. Dabei stellte er Differenzen zwischen allgemeinrussischen  Identitätskriterien und der axiologischen Orientierung der Einwohner des Kaliningrader Gebiets fest.

In unmittelbarer Nachbarschaft grenzt Danzig. Olga Kurilo (Berlin und Frankfurt/ Oder) beschäftigte sich mit  der kulturellen Vielfalt und Nationalismen in Bezug zu den Grenzen und ihrer Überschreitung in der Freien Stadt  Danzig in der Zwischenkriegszeit (1920er und 1930er Jahre). Sie stellte zunächst die Frage, wie die Grenzen  Danzigs entstanden waren und welche Rolle sie bei der Entwicklung der Stadt spielten, um auf die Fragen zu  kommen, wie nationale und kulturelle Grenzen bei einer großen kulturellen Vielfalt überwunden werden konnten  und in wie weit die Identität der Freien Stadt dadurch beeinflusst wurde.

Die Frage der Identität wurde auch von Viktor Romanowskij (Kaliningrad) aufgegriffen. Er konstatierte einen zwiespältigen Charakter der  Verhaltensweisen der Einwohner des Kaliningrader Gebiets. Sie seien bestrebt, die Grenzen zu ihren Nachbarn zu überwinden und dass schon Anzeichen im Grenzgebiet bestünden, die auf ein Zusammenwachsen hindeuteten.

Der Bezug auf historische Elemente der deutschen Kultur sowie der alltägliche Kontakt mit Polen und Litauern würden zu einer europäischen Identität beitragen und führten zu zwiespältigen Verhaltensweisen der Einwohner der Region. Dem setzte Il'ja Dement'ev (Kaliningrad) die Frage entgegen, ob das Weiterbestehen der mentalen Grenzen in Europa, die durch den akademischen Diskurs sakralisiert würden, unausweichlich wäre? Der westliche Diskurs zu Kaliningrad bringe die Einwohner um das Gefühl der Subjektivität. Es fehle die innere und äußere Perspektive auf und aus Kaliningrad. Er forderte auf, die Identität des „Anderen“ anzuerkennen und die Erfahrung des Individuums zu beschreiben, welches sich gegenüber diesem Diskurs auflehnt.

Adam Jarosz (Toruń) thematisierte den Alltag von Polen im deutschen Grenzraum  Uecker-Randow. Dabei konzentrierte er sich auf die Probleme und Vorteile der Polen und Deutschen, die im  deutschen Grenzgebiet leben. Die hier sich vollziehende Niederlassung von Polen in Deutschland sei eine neue  Art Migration, die sich in den deutsch-polnischen Beziehungen der Nachkriegszeit vollziehe. Ein Beweis für die Beteiligung von Polen am gesellschaftlichen Leben in Deutschland, seien drei polnische Kandidaturen bei den Kommunalwahlen 2009, was unterschiedliche Reaktionen bei der Bevölkerung hervorrief.

Auch über interkulturelle Begegnungen im multiethnischen Grenzraum referierte Paulina Cioroch (Szczecin). Sie  stellte die Frage, ob Globalisierung die Grenzen im Kopf verschwinden lässt, oder sie doch eher verfestigt bzw.  neu entstehen lässt. Vorgestellt wurden Forschungsergebnisse zur Grenzthematik im Bereich der Literatur und  Geschichte der Ostseeländer im 20. Jahrhundert, wobei das Werk des Schriftstellers Edzard Schaper im  Mittelpunkt stand.

Ebenfalls einen biographischen Zugang wählte Irina Belinceva (Moskau) in ihrem Beitrag über den Polen Marian Lalewicz, der als russischer Architekt bekannt wurde. Am Beispiel seines Schaffens wurden drei Fragen des Grenzverständnisses besprochen. Welche kulturelle Identität hatten polnische Architekten in Russland bis 1918? Was wurde von ihnen in der Zwischenkriegszeit in Polen entworfen? Die russische und polnische Schaffenszeit von M. Lalewicz würde durch die zeitgenössischen Forscher in beiden Ländern verschieden interpretiert werden.

Die Sektion „Globalisierung und grenzüberschreitende Kommunikation“ wurde von Piotr Zaricny (Toruń)  mit seinem Vortrag zu grenzüberschreitenden gesellschaftlichen Kontakten zwischen Polen und Ostdeutschen im  kalten Krieg (1945- 1989) eingeleitet. Der Beitrag stellte die tatsächliche und die „mentale“ Grenze vor, die  unter dem Einfluss der Entfaltung von sozialen Kontakten zwischen Polen und den Deutschen aus der DDR auf  inoffizieller Ebene an Bedeutung verlor. In diesem Prozess spielte nicht nur die Oder-Neiße-Grenze eine bedeutende Rolle, sondern auch die Vorstellungen über die Solidarność-Bewegung, die in beiden Gesellschaften existierten.

Dominik Pick (Frankfurt/ Oder) ergänzte dies mit einem Beitrag über die Kontakte zwischen Polen und Westdeutschen im gleichen Zeitraum, wobei auch vom Abbau „mentaler“ Grenzen durch  gesellschaftliche Kontakte berichtet wurde, was zu einer aktiveren Teilnahme der Polen am weltweiten Globalisierungsprozess geführt habe.

Geopolitischen Wandel und grenzüberschreitende Migration im südostbaltischen Raum stellte Larissa Emeljanova (Kaliningrad) vor. Dabei legte sie ihren Schwerpunkt auf die vorhandenen institutionellen Mechanismen der Migration und die Rolle der Grenze bei diesem Prozess. Sie fragte, wie die Region in Bezug auf Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitsmarkt mit diesem Globalisierungsphänomen umgehe.

Besondere Aufmerksamkeit erhielt der Beitrag von Maria Kochanowskaja (Kaliningrad). Sie konzentrierte sich in ihrem Vortrag auf die Rolle der natürlichen und verwaltungsmäßigen Grenzen bei der Entwicklung des Naturschutzes in Russland. Grenzgebiete spielten bei der Gestaltung von Naturschutzgebieten eine besondere Rolle, da sie funktionsbedingt besonderen Schutz für das Entstehen von ökologischen Zonen bieten würden. Der Vortrag schaffte mit seinem interdisziplinären Charakter besondere Aufmerksamkeiten gegenüber Ökologie und Umwelt vor dem Hintergrund der Globalisierung.

Welche gesellschaftlichen Folgen Globalisierungsprozesse nach Meinung Tadeusz Borowskis habe, referierte Vera Andrejchuk (Kaliningrad). Diese Prozesse hätten demnach neben positiven auch negative Folgen, wie  Unifizierung, Gefährdung durch Verlust der ethnokulturellen Vielfalt und Verwischung der nationalen Identität. Auf Grund dieser Prozesse, könnten sich die internationalen und konfessionellen Konflikte sowie Fremdenhass verstärken, also letztendlich das, wogegen T. Borowski aufgetreten sei. 

Die dritte und letzte Sektion, „Die Grenze als „Mauer“ – Vergangenheit ohne Wiederkehr?“, wurde mit einem theoretischen Exkurs von Roman Bäcker (Toruń) eingeführt. Unterschiede, oder vielmehr Grenzen zwischen offenen und geschlossenen Gesellschaften stellte er seinem Publikum exemplarisch am sowjetischen System vor. Eine offene Gesellschaft sei von Pluralismus und einem dauerhaften Wandel geprägt, während eine  geschlossene Gesellschaft in ihrem Schwarzweißdenken und ihrer Verteidigung nach außen gefangen sei. Die Unmöglichkeit, die Gesellschaftsgrenzen zu überschreiten, sei die wichtigste Voraussetzung für die Stabilität und letztendlich die Existenz dieser Gesellschaften. Die Grenzproblematik sei jedoch komplexer. Die Diskussion könne daher nicht bei der Analyse politischer Systeme aufhören.

Vergangene Grenzen kehrten im Beitrag von Anna Zglińska (Toruń) wieder, indem sie die preußisch-russische Drwęnz-Grenze aus dem 19. Jahrhundert als Reliktengrenze vorstellte. Sie zeigte die räumlichen und historischen Bedingtheiten dieser Flusslandschaft bei Thorn auf, bevor sie auf die wesentlichen Erscheinungen im Grenzgebiet zu sprechen kam. Die Herausbildung einer „Kultur des Grenzgebietes“ spielte dabei ebenso eine Rolle, wie Schmuggel und saisonale Auswanderung und das Bewusstsein für kulturelle Unterschiede. Zur Sprache kamen dabei auch die Versuche, die alte Grenze nach der Gründung Polens 1919 zu beseitigen, um die Staatsteile miteinander besser zu verschweißen.

Abgrenzung statt Verbindung, Grenze als „Mauer“, kontrastierte Jurij Kostiasov (Kaliningrad) und behandelte die speziellen gesellschaftlichen Folgen, die der Anschluss des nördlichen Teils Ostpreußens an die UdSSR im Jahr 1945 nach sich zog. In diesem Gebiet galten besondere Regeln für die Ein- und Ausreise sowie Beschränkungen in der Bewegungsfreiheit. Im ersten Nachkriegsjahrzehnt förderten ideologische Kampagnen eine „Belagerungsmentalität “ bei den Einwohnern und hätten ein besonderes „Abwehrbewusstsein“ erzeugt. Möglicherweise gibt es diesbezüglich Verbindungen zu den Ursprüngen des Identitätsproblems der Kaliningrader Bevölkerung. Gennadij Kretinin (Kaliningrad) gab in seinem Beitrag zu bedenken, dass in ein polnisch-litauisch-katholisches und ostpreußisch-protestantisches Umfeld ein russisch-orthodoxes hineingewachsen sei. Die geopolitische Lage der Enklave, über Jahrzehnte eine militärische Sperrzone und Stützpunkt der sowjetischen Marine, habe den Einheimischen nach der politischen Wende die Möglichkeit zu seltenen Kontakten zur westlichen Welt gegeben. Dies könne man als Erfahrung einer Identitätserweiterung begreifen.

Die Konferenz war durch ihre interdisziplinären Beiträge aus den drei Partnerländern eine weitere Ausarbeitung  des Themas Grenzen im ostmitteleuropäischen Raum. Es wurden verschiedene nationale Schwerpunkte und interdisziplinäre Positionen ausgetauscht und diskutiert, was die vielschichtigen Bedeutungen von Grenzen unterstrich und dazu aufforderte, das Thema weiter zu verfolgen. Die nächste Konferenz ist 2012 in Kaliningrad stattgefunden und Probleme des historischen Gedächtnisses zwischen Oder und Neman thematisiert.

Es ist geplant, die Konferenzbeiträge in einem Sammelband zu veröffentlichen, der voraussichtlich im Frühjahr 2012 in Toruń/ Thorn erscheinen wird.