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30 Jahre Europa-Universität Viadrina
Wissen schaffen. Begegnung leben. Zukunft gestalten.

Minister Hinrich Enderlein

 „Die Idee Europa-Universität Frankfurt (Oder) ist ein Selbstläufer. Lassen wir ihn starten!“

Rede des Ministers für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Hinrich Enderlein, zur Eröffnung der Europa-Universität Frankfurt (Oder) am 6. September 1991

„Über wenige Themen habe ich im vergangenen Jahr so intensiv nachgedacht wie über die Gründung dieser Europa-Universität in Frankfurt. Unser schönes Land Brandenburg hat uns eine Vielzahl von Problemen auf den Weg gegeben, die wir lösen werden. Es bietet uns aber auch herausfordernde Perspektiven, denen wir uns zuwenden wollen und müssen. Und es fordert von uns Visionen, die wir über die reale Utopie zur Realität formen wollen.
Es gibt wenige Bereiche, auf die alle diese Aspekte so gleichermaßen zutreffen wie auf diese Universitätsgründung. Das macht sie zu einer der faszinierendsten Aufgaben, der sich ein Politiker überhaupt stellen kann.

Der heutige Tag ist ein entscheidendes Etappenziel auf dem langen Weg, der noch vor uns liegt. Ich begrüße alle, die heute hier anwesend sind, Grüße auch die, die gern dabei wären als Weggefährten, von denen wir viele brauchen können, und auf die es ankommt.

Ich begrüße Sie, Herr Ministerpräsident, sowie die Ehrengäste:
- Polnischer Bildungsminister, Professor Głębocki, Serdecznie witam kolegę Ministra.
- Anke Brunn, Ministerin für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen
- Minister für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Sport des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Herrn Wutzke
- meine Kolleginnen und Kollegen Minister und Staatssekretäre (Birthler, Hildebrand, Bräutigam)
- Landtagspräsident Knoblich
- Mitglieder des Europaparlaments, des Bundestages und des Landtages
- die Herren Wojewoden der benachbarten Wojewodschaften
- den Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt (Oder), Herrn Dr. Denda
- Mister Miles, Leiter der Außenstelle der Botschaft der USA in Berlin
- die Herren Attaches der Botschaften
- Herrn Gründungsrektor Professor Ipsen sowie die Mitglieder des Gründungssenats
- die Herren Rektoren der polnischen und deutschen Universitäten, stellvertretend für alle Hochschulvertreter

Mit der Europa-Universität Frankfurt gründen wir nicht nur eine Hochschule. Wir setzen darüber hinaus ein Zeichen gegen Tendenzen der Mutlosigkeit und Verzagtheit. Wir setzen Gründungsoptimismus gegen Abwicklungsmentalität. Wir setzen insgesamt auf eine Bildungsoffensive in Brandenburg und den neuen Ländern. Mir ist immer wieder nachgesagt worden, die Universitätsgründung in Frankfurt sei mein Lieblingskind. Ich streite nicht ab, daß überzeugende Konzeptionen immer und überall meine Zustimmung finden. Wichtiger ist aber wohl, daß sich mit dieser Gründungsidee inzwischen so viele Menschen identifiziert haben, daß ich sie kaum mehr nur als Hochschul- oder Bildungs- oder Brandenburgisches Phänomen betrachten kann. Ich habe vielmehr den Eindruck, daß diese Universitätsgründung mehr als andere Projekte den Aufbruch der Gesellschaft in Brandenburg, aber auch in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Berlin, in eine Entwicklung symbolisiert, die deutlich machen will: hier gestalten wir unseren Beitrag für die europäische Zukunft. Und dies ist ein eigenständiger Beitrag, ein Beitrag der Bildungsoffensive in den neuen Ländern, ein Beitrag, mit dem wir beweisen werden, daß Europa durch die deutsche Einigung eine neue Qualität bekommen hat.

Ich stimme ausdrücklich mit einem Kritiker dieser Universitätsgründung überein, der warnend darauf hingewiesen hat, daß alle bisherigen Konzepte einer deutschen Europa-Universität nicht ins Freie gekommen sind. Das gilt für Konstanz, Passau, Trier und Saarbrücken. Ich stimme ausdrücklich nicht mit Herrn Simon, dem Vorsitzenden des Wissenschaftsrates, überein, wenn er meint, diese fehlgeschlagenen Versuche würden auch gegen Frankfurt sprechen. Im Gegenteil. Wir haben hier die einmalige Gelegenheit, an einer unvergleichlich günstigen Stelle und in einer kaum wiederholbar günstigen historischen Situation den Gedanken einer europäischen Universität in die Tat umzusetzen und mit Leben zu füllen. Wenn sich jemals in den vergangenen Wochen und Monaten Mutlosigkeit ausgebreitet hat, bei den Anhängern und Befürwortern dieser Universitätsgründung, dann war sie spätestens in dem Augenblick verflogen, als die jüngsten Entwicklungen aus der Sowjetunion gemeldet wurden. Einen deutlicheren Hinweis, daß wir auf dem richtigen Weg sind, konnte es nicht geben. Wir hätten uns allerdings gern mit einem weniger drastischen und dramatischen Zeichen begnügt.

Von hier aus geht heute die Einladung an alle Hochschulen der Länder und Völker der ehemaligen Sowjetunion, den Weg nach Europa zu beschreiten, ihrer Jugend europäische Ausbildungsangebote zu vermitteln, die Chance zu einem Weg in die europäische Integration zu nutzen.

Aber wir sehen diese Entwicklung nicht nur einseitig. Als Peter der Große an der Jahrhundertwende vom 17. zum 18. Jahrhundert mit der Gründung von Sankt Petersburg, wie Puschkin sagt, „ein Fenster nach Europa öffnete“ („otkryl okno w Evropu“), da hat er bewußt die Öffnung des weitgehend abgekapselten russischen Reiches nach Westeuropa betrieben.

Heute besteht eine doppelte Notwendigkeit der Öffnung. Wir müssen den ost- und südosteuropäischen Ländern den Weg in die Europäische Gemeinschaft öffnen und ebnen. Ich gehe davon aus, daß die nächste Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft eine Osterweiterung sein wird. Auf der anderen Seite gibt es das unbestreitbare Bedürfnis und Erfordernis, die Westeuropäer an die Gegebenheiten und neuen Entwicklungen in Osteuropa heranzuführen. Dabei ist sicher die Wirtschaft ein starker Motor. Ein noch stärkeres Motiv für die Westeuropäer ist die Entwicklung und Stärkung der jungen Demokratien in Osteuropa. Die Europa-Universität in Frankfurt wird ein Partner für die jungen Demokratiebewegungen in den osteuropäischen Staaten sein.

Dabei ist unser Angebot nicht einseitig. Gleichzeitig geht die Botschaft an die Hochschulen in Polen, Estland, Lettland, Litauen, Rußland, Weißrußland, in der Ukraine, in Ungarn und in der Tschechoslowakei: Wir brauchen euch, um die ganze Dimension Europas nach Westeuropa einzubringen. Diese Europa-Universität wird nur dann florieren, wenn osteuropäische und westeuropäische Studierende und Lehrende gleichzeitig hier einen Platz für einen europäischen Wissenschaftsaustausch finden.

Es war und ist nicht mein Ziel, als Universitätsgründer in die Annalen des Landes Brandenburg einzugehen. Stattdessen empfinde ich Dankbarkeit gegenüber all jenen, die es durch ihre Unterstützung und ihre Ermutigung ermöglicht haben, etwas mehr als 9 Monate nach Amtsantritt dieser Regierung, mit dieser Universitätsgründung ein Zeichen für die positive Entwicklung dieses Landes und ein Symbol für die Hoffnung seiner Menschen in einer schwierigen Zeit des Umbruchs und der Verunsicherung zu setzen.

Ich weiß, daß die Zeichen für die Gründung dieser Universität längst vor meinem Amtsantritt als Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur gesetzt waren. Und als Historiker bewundere ich diese Menschen, die an den runden Tischen oder anderswo begriffen haben, daß die neue Demokratie in Brandenburg auch neue Zeichen braucht, die ihrerseits an historische Entwicklungen anschließen. Ich weiß nicht, ob es anderswo ein Beispiel für die Wiedergründung einer Universität, 180 Jahre nach ihrer Schließung, gegeben hat. Wir setzen damit ein Zeichen für die Tradition, in die sich das Land Brandenburg stellt. Und die Universität Frankfurt hat das preußische Geistesleben im 17. und 18. Jahrhundert sicher stärker beeinflußt als andere Einrichtungen. Wir setzen aber auch ein Zeichen für die moderne Entwicklung, denn wir stellen diese Universität eben nicht nur in eine historische Tradition, sondern auch in den Brennpunkt einer modernen politischen Entwicklung.

Wir wollen hier in Frankfurt eine europäische Begegnungsuniversität ins Leben rufen, in der Professoren und Studierende aus zahlreichen Ländern Europas in interdisziplinären Studiengängen und Forschungseinrichtungen zusammenarbeiten werden.

Drodzy goście z Polski! (es folgt polnischer Text)
Do wspólnej pracy polskich oraz niemieckich studentów i naukowców przywiązujemy fundamentalne znaczenie, a w naszym przyszłym współdziałaniu w ramach Uniwersytetu Europejskiego upatrujemy doniosłego wkładu w dzieło porozumienia i współpracy narodów oraz jednoczenia się Europy.

(es folgt die deutsche Übersetzung)
Der gemeinsamen Arbeit polnischer und deutscher Studenten und Wissenschaftler kommt dabei zentrale Bedeutung zu, und wir verstehen dieses gemeinsame künftige Zusammenwirken im Rahmen der Europa-Universität als einen wichtigen Beitrag zur Verständigung und zur Zusammenarbeit der Völker und zur Einigung Europas.

Mir liegt sehr viel an der Entwicklung der Sprache. Ich fordere deshalb die Universität nachdrücklich dazu auf, Sprachkompetenz als entscheidendes Kriterium nie aus den Augen zu lassen. Zwei- oder Dreisprachigkeit werden Kriterien und Merkmale dieser Universität sein. Wir lassen uns nicht den Aufkleber einer Elite-Universität – was auch immer das ist – verpassen. Aber wir werden Sprachqualifikation als wesentliches Aufnahmekriterium sehr hoch halten.

An der Europa-Universität sollen neue Ausbildungskonzepte entwickelt werden, sollen Studiengänge konzipiert werden, die das herkömmliche Fachstudium mit dem Studium von Sprachen und mit dem Studium europabezogener landeskundlicher Fächer verbinden. Wir scheuen uns nicht, Anleihen im Bereich angelsächsischer Hochschulen zu machen. Wir wollen postgraduale Studiengänge entwickeln. Und wir werden Angebote in sogenannten area studies machen. Ich bin froh, das Engagement und die hohe Motivation vieler international renomierter Wissenschaftler und erfahrener Fachleute aus dem Bereich der Wissenschaftsverwaltung, die sich durch ihre ehrenamtliche Mitarbeit im Gründungssenat und in anderen Gremien für unsere Universität einsetzen, für dieses Projekt nutzen zu können. Sie können sich darauf verlassen, daß der einmütige politische Wille des Parlaments und der Landesregierung Brandenburgs hinter Ihnen stehen.

Wenn diese Universitätsgründung in Frankfurt zum Erfolg führt, dann wird es ein Erfolg für die Stadt Frankfurt und die Region sein, es wird ein Erfolg für Brandenburg sein, es wird ein Erfolg für Europa sein, es wird ein Erfolg für westeuropäische Aussöhnung sein, und es wird Wege in ganz neue Ausbildungskonzeptionen eröffnen. Die Idee der Europa-Universität in Frankfurt ist ein Selbstläufer. Lassen wir ihn starten.“

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