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30 Jahre Europa-Universität Viadrina
Wissen schaffen. Begegnung leben. Zukunft gestalten.

Ministerin Anke Brunn

»Eröffnung der Europa-Universität Frankfurt (Oder), Wiedergründung auf den Spuren der alten Universität Viadrina.«

Rede der Ministerin für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen,
Anke Brunn, anläßlich der Gründungsveranstaltung der Universität Frankfurt (Oder) am 6. September 1991

„Eröffnung der Europa-Universität Frankfurt (Oder), Wiedergründung auf den Spuren der alten Universität Viadrina. Welch erfreulicher Anlaß zu Ihnen zu sprechen und Ihnen persönlich Grüße des Ministerpräsidenten Johannes Rau und der ganzen Landesregierung von Nordrhein-Westfalen zu überbringen.
Im Sommer letzten Jahres habe ich von der Idee, in Frankfurt an der Oder eine Universität zu gründen, gehört. Es hat mich bewegt, mit welchem Mut und welcher Weitsicht die Menschen hier unter schwierigsten Umständen zu Werke gingen.

Besonders beeindruckt war ich von der jungen Regierungsbeauftragten Britta Schellin. Sie hat in der Zeit des dramatischen, vollständigen Neuanfangs neben dem Kampf um die Arbeitsplätze im Halbleiterwerk, neben der täglichen Auseinandersetzung mit den Alltagssorgen einer verunsicherten Bevölkerung und einer von Grund auf neu zu schaffenden Verwaltung den Mut gehabt, das große Hochschulprojekt ins Auge zu fassen und die neue Hochschule unmittelbar an der Grenze, an der Brücke zum Nachbarland, mit der Idee der deutsch-polnischen Zusammenarbeit zu verbinden.
Bei meinem ersten Besuch vor einem Jahr habe ich mich gefragt, warum man wohl diese antennenbewehrte, eher bedrohlich als durchlässig wirkende Grenze mit der schwer zu überquerenden Brücke wohl „Freundschaftsgrenze“ genannt hat. Freundschaft kann doch erst durch Austausch und Begegnung, durch gemeinschaftliches Handeln entstehen.

Möge diese Hochschule dazu beitragen, daß ein gemeinsames geistiges und wissenschaftliches Fundament deutsch/polnischer Zusammenarbeit entsteht und auch dazu, daß hier junge Menschen eine Bildung erfahren, die nach den staatlichen Grenzen auch die geistigen öffnet.

Sie, Herr Ministerpräsident Stolpe, haben die Idee einer Europa-Universität Frankfurt (Oder) zum brandenburgischen Regierungsprogramm erhoben. Sie haben damit ein Erbstück der sanften Revolution in die neue Zeit hinübergenommen, Ihrer neuen Kulturhoheit Ausdruck verliehen.

Herr Kollege Enderlein, Sie haben die Hochschulgründung praktisch in die Hand genommen und konnten Herrn Professor Ipsen als Gründungsrektor gewinnen. Herzlichen Glückwunsch!

Auch Ihnen, Herr Gründungsrektor, und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wurde nun die Aufgabe übertragen, aus der Idee ein Konzept und aus dem Konzept eine Universität mit engagierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und Studententinnen und Studenten werden zu lassen.

Die Idee allein wird jedoch diese Alma mater nicht ernähren. Das Land Brandenburg muß auch materiell zu seiner Hochschule stehen. Der Bund ist aufgrund seiner verfassungsmäßigen Aufgabenstellung nur subsidiär tätig, die Ländergemeinschaft über den Finanzausgleich. Das wird Sie in Brandenburg des Streits um die Prioritätssetzung nicht entheben.

Wir, aus dem Partnerland Nordrhein-Westfalen, werden auf ihre Anforderung hin im Wege der Verwaltungshilfe, soweit wir können, mit Rat und Tat zur Verfügung stehen. Die Hauptlast liegt bei dem Land Brandenburg, das wahrlich noch nicht mit Reichtümern gesegnet ist.

Da fehlt es sicher nicht an wohlmeinenden Ratschlägen, zum Beispiel angesichts von Not und Sorgen, angesichts der hohen Arbeitslosigkeit, auf solch ein Jahrhundertprojekt zu verzichten. Denn die vielen tausend Menschen, die arbeitslos werden, erhalten durch die Hochschule keine unmittelbar neue Perspektive. Aber: So sehr die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit im Vordergrund der Politik steht und stehen muß, so falsch wäre es, auf das Hochschulprojekt zu verzichten.

Wenn die alte Hansestadt Frankfurt an der Oder, wenn die Handelsstadt Frankfurt, wenn die Bürgerstadt Frankfurt wieder Profil und Bedeutung gewinnen will, dann braucht sie diese Hochschule. Und der Standort dieser alten Stadt am großen kontinentalen Ost-West-Wirtschaftsweg ist ideal dafür, hier wieder ein Handelszentrum und ein Wissenschaftszentrum zu schaffen.

Aber auch das Land Brandenburg, ob es sich nun mit Berlin zusammenschließt oder nicht, muß den Anspruch erheben, und wir müssen dies als legitim ansehen, seinen nahezu vollständigen Mangel an akademischen Ausbildungsmöglichkeiten zu beheben.

Der Arbeiter- und Bauern-Staat hatte seine Jugend mit akademischen Ausbildungsmöglichkeiten nicht nur einseitig, sondern auch sehr mangelhaft versorgt. Und Brandenburg, die alte „Streusandbüchse“, war noch einmal mehr vernachlässigt.

Zum Vergleich: Nordrhein-Westfalen mit einer der früheren DDR ungefähr vergleichbaren Bevölkerungszahl zählte mehr als dreimal soviel Studierende wie die DDR. Merkwürdigerweise waren in der DDR laut deren Statistik doppelt soviel Beschäftigte wie bei uns mit dieser kleinen Zahl von Studierenden befaßt und dies, obwohl die Grundlagenforschung bei uns an den Hochschulen stattfindet, während sie in der DDR der Akademie der Wissenschaften zugeordnet war.

Und Brandenburg war zu DDR-Zeiten wie das Ruhrgebiet vor 30 Jahren. Wenn Brandenburg sich nicht auf Dauer als bildungsfernes Land mit schwacher Infrastruktur festschreiben lassen wollte, mußte es sofort den Schritt zum Ausbau seiner Hochschullandschaft tun.

Wenn die Hochschule sich entwickelt, werden hier auch neue Arbeitsplätze entstehen. Dabei wird sich auch eine neue Perspektive für Menschen ergeben, die aufgrund des Umstrukturierungsprozesses an den bestehenden Hochschulen in den neuen Ländern Arbeit suchen.

Nordrhein-Westfalen war besonders im Ruhrgebiet ebenfalls über Jahrzehnte hin ein bildungsfernes Land, weil die früheren preußischen Regierungen dort Fabriken, aber keine Denkfabriken sehen wollten. Bitte, vergessen Sie nicht: auch unsere Hochschullandschaft, die inzwischen Hochschullandschaft Europas genannt wird, wurde erst in den letzten 30 Jahren aufgebaut, ganz besonders durch die Hochschulgründungen, die sich mit dem Namen Johannes Rau verbinden.

Über viele Jahre hinweg war dies alles sehr umstritten. Noch als ich mein Amt 1985 übernahm, wurde ich hämisch gefragt, wann ich wohl eine dieser Neugründungen mangels Nachfrage schließen müßte.

Inzwischen ist die Einsicht verbreitet, daß das Land Nordrhein-Westfalen seinen schwierigen industriellen Strukturwandel, vom Land von Kohle und Stahl zum modernen Industrieland wegen seiner guten wissenschaftlichen Infrastruktur so vergleichbar gut bewältigen konnte.

Weil wir unseren Strukturwandel nicht abgeschlossen haben – denken Sie bitte an die Probleme im Bergbau - weil die Bildungsbereitschaft der jungen Menschen wächst und weil aus Wirtschaft und Gesellschaft immer neue Anforderungen an die Qualifizierung von Bildung und Ausbildung berichtet werden, können wir unseren Ausbau wegen des Neubeginns im Osten Deutschlands nicht beenden.

Das sage ich, weil auch wir hin und wieder den Ratschlag erhalten, unsere Entwicklung zu beenden und uns auf den Neuaufbau im Osten zu konzentrieren. Abgesehen davon, daß dies eine unangemessene Zumutung für unsere junge Generation wäre, der wir in der Verfassung das Bürgerrecht auf Bildung verfassungsmäßig garantiert haben: Es wäre auch im europäischen Vergleich ein Rückschritt, wenn Deutschland sich im Jahre 2000 im Hinblick auf die Bildungsinfrastruktur irgendwo zwischen der alten Bundesrepublik und der alten DDR befände.

Wir müssen also alle lernen, bei Respektierung unserer unterschiedlichen Lage und mancher Ungleichzeitigkeit der Entwicklung, in den Kategorien einer größer gewordenen Bundesrepublik, in Kategorien europäischer Zusammenhänge zu denken. Und die Bildungspolitiker müssen dringend wieder anspruchsvoller werden.

Die älteste unserer Hochschulen ist Köln. Sie ist ebenso wie die alte Viadrina von Napoleon geschlossen worden und in der schwierigen Zeit nach dem ersten Weltkrieg mehr als 100 Jahre später von Konrad Adenauer wieder eröffnet worden. Auch ein Vorbild.

Die älteste unserer jungen Hochschulen ist die Universität Bochum, wörtlich auf Kohle gebaut. Sie feierte gerade erst ihr 25jähriges Jubiläum und ist doch schon eine der zehn größten Hochschulen der alten Bundesrepublik geworden und genießt weltweit Anerkennung.

Gerade wegen Ihrer Erfahrung in Bochum und wegen Ihrer Zusammenarbeit mit Polen, besonders mit der Universität Krakau, als die Zeiten viel schwieriger waren als heute, freue ich mich besonders, daß Sie, Herr Prof. Ipsen, das Werk hier in Frankfurt beginnen wollen.

Ihre Teilnahme, Herr Minister Glebocki, signalisiert das Interesse Ihres Landes an dieser Europäischen Universität. Es ist gut, daß Sie von Anfang an mitwirken. Und es dürfte nicht schwer sein, auch westeuropäische Nachbarn für die Mitwirkung zu gewinnen. Neben Frankreich könnte man an die Niederlande denken, mit denen auch wir Nordrhein-Westfalen gut zusammenarbeiten.

Gerade weil in den neuen Ländern manchmal die westdeutsche Zuwendung als Übermaß empfunden wird, ist die Aufbau-Kooperation über die deutschen Grenzen hinaus nicht nur Horizonterweiterung, sondern auch Erleichterung.

Wir alle sehen, bei aller begründeten Verzagtheit über den schwierigen Neuaufbau und die durcheinandergeratenen Lebensperspektiven für so viele Menschen, doch mit Faszination und Begeisterung, wie sich, beginnend mit dem Aufbegehren in Polen und Ungarn, nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in ganz Osteuropa und in der Sowjetunion die Menschen befreit haben.

Während wir noch vor zwei Jahren in Westdeutschland über das Ende der Aufklärung und die mögliche Krise des Projekts der Moderne stritten, stellen wir heute fest, daß völlig unerwartet und getragen von der Kraft der Menschen, eine europäische Entwicklung ihren vorläufig letzten Höhepunkt findet, für die mir kein anderes Wort einfällt als die Durchsetzung der Aufklärung.

Denn, wenn man Emanuel Kant folgt, dem Königsberger Philosophen, so ist doch Aufklärung nichts anderes als die Befreiung des Denkens aus den Fesseln von Überlieferung, Gewohnheit, angemaßter Autorität und Aberglauben und der Aufbruch des Menschen, seine Vernunft, seine unveräußerlichen Rechte und sein Verlangen nach Glück, sowohl im Denken als auch in der gesellschaftlichen Ordnung, verwirklicht zu sehen. Freiheit, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind seither die Grundlagen des gesellschaftlichen Entwicklungskonzepts, das von Europa aus über Nordamerika seinen Ausgang genommen hat und heute über alle Katastrophen der europäischen Geschichte hinaus, zu denen gerade wir Deutschen unseren Beitrag geleistet haben, nahezu alle Europäer miteinander verbindet.

Die Tatsache, daß in Moskau die Panzer abgedreht haben und der Putsch gescheitert ist, bezeichnet den Endpunkt und Höhepunkt dieser Befreiung.

Die Frage ist nun, wie geht es weiter, was kommt danach? Sind wir intellektuell gerüstet, haben wir Konzepte, wie es weitergehen soll?

Ich beobachte, daß die revolutionäre Entwicklung vielfach von Intellektuellen getragen und herbeigeführt wurde, daß sie dann aber schneller verläuft als unsere gesellschaftlichen Vorstellungen und politischen und gesellschaftlichen Rezepte folgen könnten. Vielfach wird zurückgegriffen auf die Modelle von vorgestern, weil es dir Modelle von morgen noch nicht gibt.

Ich wünsche Ihnen allen, daß diese Hochschule ein Haus für das Europa von morgen wird, daß hier gesprochen, gedacht und diskutiert wird über den Tag hinaus. Vielleicht kann diese Hochschulgründung einen Beitrag zur überfälligen Zukunftsdiskussion geben.

Und hoffentlich werden hier später junge Menschen die Universität verlassen, die Rat wissen für die Wirtschaft im Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft, für neue Fragen des Völkerrechts und innerstaatlicher demokratischer Regelungen im Zusammenleben gesellschaftlich, kulturell, religiös, nationalverschieden geprägter Menschen in neu geschaffenen Staaten.

Bis dies soweit ist, brauchen Sie Geduld, auch wenn Sie eigentlich keine Zeit dazu haben. Ich wünsche Ihnen langen Atem und Kreativität und vollen Erfolg.“

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