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Aus der „Verbrecherhoehle“ in die Online-Datenbank: Präsentation des Digitalen Archivs jüdischer Autorinnen und Autoren in Berlin 1933–1945 (DAjAB)

In jahrelanger Arbeit ist am Axel Springer-Lehrstuhl für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, Exil und Migration das Digitale Archiv jüdischer Autorinnen und Autoren in Berlin 1933–1945 (DAjAB) aufgebaut worden, das Ende 2022 eröffnet werden soll. Am 9. November 2021 wurde es im Rahmen einer Interdisziplinären Konferenz zum Gedenktag an die Reichspogromnacht 1938 vorgestellt. Prof. Dr. Kerstin Schoor und ihre Kolleg:innen präsentierten die Arbeit persönlich und in einem Einführungsfilm. Denn: „Ohne Überlieferung keine Erinnerung“, so die Lehrstuhlinhaberin.

„Das alles haben wir damals noch in der Verbrecherhoehle gemacht und machen dürfen bei allen Beschränkungen“, schrieb am 19. April 1942 Jakob Picard in einem Brief an den Literaturhistoriker Paul Amann. Dabei sprach der jüdische Jurist und Dichter von den künstlerischen und vor allem literarischen Werken der nach 1933 nicht emigrierten jüdischen Autor:innen. „Einmal wird man auch dieses darstellen muessen, was von uns dort in jenen harten Jahren geschaffen worden ist.“ Seine Forderung erfüllt sich nun: durch das Digitale Archiv jüdischer Autorinnen und Autoren in Berlin 1933–1945 (DAjAB).   >>>weiterlesen

Die Vorstellung des Archivs fand im Rahmen der Konferenz „Gebrochene Traditionen? Jüdische Literatur, Philosophie und Musik im NS-Deutschland“ statt. Das Gedenken am Synagogenstein in der Frankfurter Innenstadt und ein Konzert der Sopranistin Tehila Nini Goldstein und des Pianisten Jascha Nemtsov bildeten den Abschluss der Tagung.


Ungekannt und marginalisiert

Während des Nationalsozialismus war der Alltag der jüdischen Bevölkerung in Berlin gekennzeichnet durch Entrechtung, Ausgrenzung, Verfolgung, Demütigungen und Zwangsarbeit. Er hinterließ seine Spuren auch in den literarischen Texten der Zeit. Sie wurden dadurch zu frühen Zeugnissen der Verfolgung und später auch Ermordung großer Teile des europäischen Judentums.

In der Nachkriegszeit führten zentrale politische und kulturpolitische Debatten der letzten Kriegs- und Nachkriegsjahre ebenso wie ein noch immer virulenter Antisemitismus und ein partielles Schweigen traumatisierter Überlebender zu einem „öffentlichen Verdrängungsprozess“, zu „blinden Flecken und nicht geführten Debatten“ in einem gesellschaftlichen Erinnerungsdiskurs. Dabei fiel das literarische und künstlerische Schaffen der nach 1933 in Deutschland gebliebenen Schriftsteller, Künstler und Intellektuellen jüdischer Herkunft schließlich durch alle Raster. Man betrachtete sie ausschließlich als Opfer nationalsozialistischer Vernichtungspolitik. Das führte schließlich, so Schoor, zu „einer Abwertung von literarischen Werken, ohne sie überhaupt zu kennen.“

Das Digitale Archiv jüdischer Autorinnen und Autoren in Berlin 1933­–1945 rekonstruiert dieses unbekannte und gewaltsam verdrängte Kapitel kultureller Entwicklungen. Es ergänzt zugleich die deutschsprachigen Literaturgeschichten der 1930er- und 1940er-Jahre um einen weiteren, noch immer ausstehenden Teilbereich, wie Projektkoordinatorin Doris Maja Krüger, die Literaturwissenschaftlerinnen Nadine Kern-Danilsen und Kathrin Stopp sowie der Philosoph Dr. phil. Bertolt Fessen detailliert präsentierten.

„Relationale Datenbank“ mit ca. 800.000 vernetzten Informationen

Seit 2014 wird an der Aufarbeitung gearbeitet. Erstmals werden über 1.000 Bio-Bibliografien der nach 1933 noch in Berlin lebenden Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft erfasst. In einer digitalen Bibliothek werden über 600 seltene und nach 1945 nicht wieder aufgelegte Monographien und Sammelbände aus jüdischen und deutschen Verlagen bereitgestellt. Ebenso tausende von literarischen Beiträgen aus wichtigen jüdischen Zeitungen und Zeitschriften. Das Portal enthält Originaldokumente, Fotos, Interviews, einschlägige Sekundärliteratur sowie Links zu internationalen Archiven und Forschungsinstitutionen. Es verzeichnet hunderte von kulturellen Veranstaltungen und Aktivitäten von über 1.500 Organisationen. Auf diese Weise dokumentiert es das kulturelle und literarische Leben deutscher Juden nach 1933 in Berlin. Anhand von über 2.500 Orten jüdischen Lebens wird es zudem auf einer historischen Landkarte visualisierbar.

Das DAjAB ermöglicht eine gezielte Recherche von thematischen Zusammenhängen in über 800.000 gespeicherten Informationen. Die technischen Besonderheiten der „relationalen Datenbank“ erläuterte der Informatiker Dipl.- Inf. Nils Alberti: Jede Information werde in Einzeldaten zerlegt und jeder Datensatz weiter verlinkt, sodass Aktualisierungen aber auch Verbindungen sofort sichtbar würden. Es entstehe aus den insgesamt mehr als 800.000 eingepflegten Informationen „ein Beziehungsnetzwerk, das sich an jeder Stelle und aus jeder Perspektive entfalten kann“ – egal also, ob ausgehend von den Organisationen, den Werken oder Personen.

Datenbank online ab 2022

Eine probeweise Öffnung des Online-Portals ist für den Sommer 2022 geplant. Nach einer Beta-Phase, während der auch Nutzende mit Hinweisen und Feedback zu Verbesserungen beitragen können, soll das DAjAB Ende 2022 endgültig für Forschende, Lehrende und Interessierte nutzbar sein. Der damals so brutal separierten „Schicksalsgemeinschaft“ des jüdischen (kulturellen) Lebens, den verfolgten, ermordeten oder ins Exil gedrängten Schriftsteller:innen und Künstler:innen, soll damit ihre öffentliche Stimme zurückgegeben werden. Das Portal werde damit selbst, so Kerstin Schoor abschließend, zu einem „Bestandteil der europäischen Erinnerungskultur“.

Die bis Mitte Februar laufende Ringvorlesung „Gebrochene Traditionen? Jüdische Literatur, Philosophie und Musik im NS-Deutschland“ zum Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland” am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg kann in der Humboldt-Universität oder auch online via Zoom verfolgt werden.

 (Text: Peggy Lohse, Fotos: Heide Fest, Peggy Lohse)

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