„… aus Neigung zu den Wissenschaften …“ – Heinrich von Kleist an der Viadrina


Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist – seines Zeichens preußischer Ex-Offizier, Student und Studienabbrecher, Kurzzeitbeamter, Festungshäftling, Zeitungsherausgeber, zensierter Dichter und Dramatiker, rastloser Reisender und kritischer Gegenwartsbeobachter, der in keine Schublade der literarischen und geistesgeschichtlichen Strömungen um 1800 so recht passen mag – konnte bereits zum Zeitpunkt seines selbstgewählten Todes am 21. November 1811 als ein aufrichtig Unangepasster gelten, ja als „ein sehr kurioser, guter, grober, bornierter, dummer, eigensinniger, mit langsamem Konsequenztalent herrlich ausgerüsteter Mensch“, wie Clemens Brentano in einem Brief an die Gebrüder Grimm formulierte. Dem jungen Mann aus Frankfurt an der Oder, dessen nahe der Marienkirche am südlichen Ende der Großen Oderstraße gelegenes Elternhaus direkt an den heutigen Campus grenzte, war im Sinne der Familientradition und zwecks Erwerb des eigenen Lebensunterhalts eine Karriere im preußischen Militär vorbestimmt. Noch nicht ganz 15-jährig trat Heinrich von Kleist im Sommer 1792 in die Eliteeinheit der preußischen Monarchie, das Regiment Garde in Potsdam ein, womit ein Lebensabschnitt begann, der sieben Jahre später mit einiger Verbitterung wieder enden sollte.
Im Verlauf der 1790er Jahre hatte Kleist als junger Offizier, zuletzt im Rang eines Secondelieutenant, an verschiedenen Feldzügen gegen das revolutionäre Frankreich teilgenommen und war durch die Beobachtung von Kasernenalltag und Kriegsgewalt zunehmend desillusioniert. Rückblickend schrieb er im März 1799 in einem sehr persönlichen Brief an seinen früheren Frankfurter Hauslehrer Christian Ernst Martini über seinen Entlassungswunsch aus dem Militär, dass er damit hadere, weiterhin als Mensch und Offizier gleichermaßen zu handeln, „denn die Pflichten beider zu vereinen, halte ich bei dem jetzigen Zustande der Armeen für unmöglich“. Kaum einen Monat später war der 21-jährige bereits aus dem Regiment Garde verabschiedet und eingeschriebener Student an der philosophischen Fakultät der Universität in Frankfurt (Oder) mit der festen Absicht sich vor allem in Mathematik, Logik und Latein weiterzubilden.
Eine besonderes Interesse sollte Kleist, der vom April 1799 bis zum Herbst 1800 an der Viadrina studierte, in der Folgezeit an den Vorlesungen und Schriften von Professor Christian Ernst Wünsch (1744-1828) entwickeln, welcher – ursprünglich gelernter Weber und gewissermaßen auf dem zweiten Bildungsweg zum Professor avanciert – seit 1784 an der Viadrina Mathematik und Physik lehrte. Während Alexander von Humboldt (1769-1859), der ebenfalls kurzzeitig an der Viadrina studiert hatte, Wünsch rückblickend mangelnde wissenschaftliche Durchdringung seines Faches vorwarf, begrüßte Kleist es außerordentlich, dass „unser gescheuter Professor Wünsch, der gewiß hier in Frankfurt obenan steht“ im Wintersemester 1799/1800 ein Privatkollegium über Experimentalphysik für die Damen der gebildeten Frankfurter Gesellschaft abhielt. Die auf einer Reise befindliche Halbschwester Ulrike von Kleist (1774-1849) erhielt umgehend per Post die dringende Empfehlung, pünktlich zu dieser „Brunnenkur zum Nutzen und Vergnügen“ nach Frankfurt zurückzukehren.
Seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge (1780-1852) wird Heinrich von Kleist später auftragen, den bereits in zweiter Auflage erschienenen populärwissenschaftlichen Dreiteiler „Kosmologische Unterhaltungen für junge Freunde der Naturerkenntniß“ aus der Feder von Wünsch zu lesen, da ihm dieses Buch als „die beßte Anleitung, Dich im Selbstdenken zu üben“ erschien. Schließlich ist auch überliefert, dass er in Frankfurt zusätzlich Lehrveranstaltungen des Mathematikers Johann Sigismund Gottfried Huth (1763-1818), des Juristen Ludwig Gottfried Madihn (1748-1834) sowie des Historikers Karl Dietrich Hüllmann (1765-1846) aufsuchte und altsprachlichen Unterricht bei dem Philologen Georg Christian Immanuel Kalau (1773-1843) nahm. Da sich seine persönliche finanzielle Situation als Student in durchaus problematischem Fahrwasser bewegte und die Schwester des Öfteren um die Gefälligkeit gebeten werden musste, unterstützend einzuspringen, sind sogar Kleists Schulden bei der Professorenschaft bekannt. Im Spätsommer 1800 schien er mit den Kollegiengebühren sichtlich in Rückstand geraten zu sein, schuldete Hüllmann und Huth je 15 Reichstaler, Madihn und Kalau je 10 Reichstaler und Wünsch eine nicht näher bezifferte Summe.
Die Gründe für den letztlich nur dreisemestrigen Studienaufenthalt Heinrich von Kleists an der Universität seiner Heimatstadt scheinen wiederum vielfältig und jedenfalls nicht oder nicht primär in Zusammenhang mit solcherlei finanziellen Fragen in Verbindung gestanden zu haben. Ab dem Sommer 1800 befand er sich auf zahllosen Reisen, teilweise mit nebulösen Beweggründen, kehrte nur kurz zur Jahreswende nach Frankfurt zurück, um im Frühjahr 1801 in Begleitung seiner Schwester Ulrike zu einem längeren Aufenthalt nach Paris aufzubrechen mit der vagen Absicht, sich dort weiteren Studien widmen zu können. Kleists ursprüngliches, gegenüber dem ehemaligen Hauslehrer erklärtes Vorhaben hatte einen Ortswechsel nach Göttingen vorgesehen, um die zweite Hälfte seines Studiums an der dortigen Universität – die in gewissem Sinne eine Art Exzellenz-Uni des 18. Jahrhunderts war – verbringen zu können, da hier bereits moderne Strukturen und neue, ausbildungsorientierte Studiengänge wie beispielsweise die Staatswissenschaften eingeführt worden waren. Doch dazu sollte es nicht kommen. Die Lektüre der Werke Immanuel Kants führte zu einer Krise, in deren Folge Kleist zu der Überzeugung gelangte, dass „hienieden keine Wahrheit zu finden ist“ und seiner Verlobten schrieb, er werde vorerst kein Buch mehr anrühren. Schließlich schien er vor dieser „Kant-Krise“ buchstäblich davonzulaufen, zunächst Zerstreuung in Berlins Kaffeehäusern und Theatern zu suchen, um dann – getrieben von innerer Unruhe und Zweifeln – die erwähnte Reise mit seiner Schwester Ulrike zu unternehmen.
Ein längerfristiges Verweilen in der Schweiz über den Winter 1801/02 führte zu Überlegungen, dort Land zu erwerben und sich als Alpenbauer niederzulassen. Den Kontakt zu seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge brach Kleist zudem im Frühjahr 1802 ab und es folgten Monate des äußerst zurückgezogenen Lebens am Thuner See, in denen Kleists Erstlingswerk „Die Familie Schroffenstein“ entstand, welches im November des Jahres in Zürich gedruckt wurde. Die zuvor emphatisch betonte „Neigung zu den Wissenschaften“ war jenen schriftstellerischen Ambitionen gewichen, deren Erfolge die Grundlage des diesjährigens Gedenkens an und Nachdenkens über Heinrich von Kleist sind.