„Das Soziologiestudium ist gerade nicht so wichtig wie die Verteidigung der Ukraine“ – Symposium über die Rolle ukrainischer Forschender in Kriegszeiten

Ukrainische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben seit dem Beginn des Krieges in ihrer Heimat nicht nur mit äußerst schwierigen finanziellen und logistischen Situationen zu kämpfen. Sie definieren mitunter auch ihre Rolle als Forschende neu. Darüber sprachen sie bei einem Online-Symposium am 1. Dezember 2022, zu dem Prof. Dr. Jana Costas und Dr. Anna Prokhorova eingeladen hatten.

„Lasst uns anfangen, solange wir Strom haben“, sagte Dr. Anna Prokhorova zu Beginn des Symposiums und verdeutlichte mit diesem kurzen Einwurf sowohl das Thema der Online-Veranstaltung als auch die harsche Alltagsrealität einiger Teilnehmender. „Academia in Times of War – How has the Russian Attack Impacted the Work and Role of Ukrainian Academics?“ lautete die Fragestellung des Symposiums, zu dem die ukrainische Soziologin gemeinsam mit Management-Professorin und Organisationsforscherin Prof. Dr. Jana Costas eingeladen hatte. Die kommenden zwei Stunden boten einen vielstimmigen Einblick in den Alltag und das Selbstverständnis ukrainischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

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Diese berichteten von vielfältigen Herausforderungen seit der Ausweitung des russischen Krieges gegen die Ukraine im Februar. Neben häufigen und oft auch langwierigen Ausfällen von Strom und Internet sowie schwieriger Logistik sei auch die „massive Migration von Forschenden“ ein großes Problem, umriss der Soziologe Dr. Viktor Stepanenko von der Nationalen Wissenschaftsakademie der Ukraine seine Beobachtungen. Die Unterstützungsmöglichkeiten für Wissenschaftler wie ihn, die im Land bleiben, seien gering. Hinzu komme, dass nationale Förderprogramme mit Kriegsbeginn eingefroren wurden. Neben finanziellen Problemen hätten er und seine Kolleginnen und Kollegen mit einem großen psychologischen Druck zu kämpfen.

Zu dieser Art der Belastung gehören offensichtlich auch Selbstzweifel und Rollenkonflikte, von denen mehrere der anwesenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler berichteten. Der Philosoph Dr. Volodymyr Yermolenko warf die Frage auf, ob er eigentlich noch Akademiker sei und antwortete selbst: „Ich glaube nicht; ich habe keine Zeit stundenlang in der Bibliothek Bücher zu lesen.“ Diese neue Rolle stärke ihn allerdings auch in wissenschaftlicher Hinsicht. „Wissen kommt nicht von Büchern oder Bibliotheken, es kommt von Erfahrung und Reflexion und vom Umgang mit schwierigen Situationen“, ist er überzeugt.

Von ähnlichen Überlegungen berichtete Dr. Danylo Sudyn von der Katholischen Universität in Lwiw, der bei seinen Studierenden eine große Erschöpfung aufgrund ihres großen freiwilligen Engagements wahrnehme. „Sie finden ihr Soziologie-Studium gerade nicht so wichtig wie die Verteidigung der Ukraine“, bringt er die Stimmung auf den Punkt. Dennoch sei er überzeugt, dass seine Aufgabe als Soziologie-Professor auch und gerade in Kriegszeiten ihre Berechtigung habe: „Krieg ist immer eine Zeit für einfache Lösungen und Schuldzuweisungen. In dieser Situation ist die Soziologie nützlich, weil sie ein tieferes Verständnis bereitstellt.“

Die Bereitstellung von Wissen, das Veröffentlichen von Onlinemagazinen und Podcasts, Online-Lehre oft über viele hundert Kilometer hinweg – das Aufgabenspektrum aller an der Diskussion Beteiligten hat sich in den vergangenen Monaten stark erweitert. Im Fall von Dr. Hanna Zaremba-Kosovych von der Nationalen Wissenschaftsakademie sind die Grenzen zwischen Wissenschaft und Aktivismus fließend. Die Ethnologin forscht seit Langem über das Leben von Menschen mit Behinderung in der Ukraine. Diese Studien setzt sie auch seit dem Krieg fort. „Ich spreche mit Behinderten über ihre Wahrnehmung des Krieges. Gleichzeitig kümmere ich mich um Geflüchtete mit Behinderung, suche geeignete Unterkünfte oder begleite sie zur Grenze“, berichtete sie.

Das Gespräch mit all seinen Impulsen und Fragestellungen werden Prof. Dr. Jana Costas und Dr. Anna Prokhorova in einen Artikel einfließen lassen. Nicht nur dafür waren die Einblicke, die die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler während des Online-Symposiums gegeben haben aufschlussreich. Ein Satz, der nachhallt, ist die Bemerkung des Philosophen Dr. Volodymyr Yermolenko, der sagte: „In einer normalen Zeit wäre ich jetzt Universitätsprofessor, aber nicht in unserer Zeit, nicht in unserer Realität. Jetzt geht es darum Bürger zu sein – und erst dann Professor.“

(FA)

Abteilung für Hochschul­kommunikation