„Wir waren neun Prozentpunkte entfernt von einem autoritären Regime. Und unsere Verfassung lässt dies zu.“ Online-Diskussion zum Ausgang der Präsidentschaftswahl in Frankreich

Anders als im Wahlkampf standen nicht die Personen Emmanuel Macron und Marine Le Pen im Mittelpunkt der Diskussionsveranstaltung am 26. April 2022, sondern verfassungsrechtliche Fragen. Die französischen Politikwissenschaftler Dr. Martin Baloge (Universität Paris-1 Panthéon Sorbonne/Centre Marc Bloch) und Dr. Cédric Pellen (Universität Straßburg/Centre Marc Bloch) diskutierten mit Prof. Dr. Timm Beichelt und Dr. habil. Elsa Tulmets vom Viadrina-Institut für Europastudien (IFES) über die Verfassungsreform des Jahres 2000, die Legitimation des Präsidentenamtes, die Schwäche der französischen Demokratie und ihrer Parteien.

fr_600_400 ©Montage: Yvonne Martin

Auf Einladung des IFES diskutierten Dr. Martin Baloge (oben rechts) und Dr. Cédric Pellen (unten links) mit Prof. Dr. Timm Beichelt und Dr. habil. Elsa Tulmets über den Zustand der französischen Demokratie.


Um politische Inhalte ging es in der Podiumsdiskussion nur am Rande. In gewisser Weise war dies konsequent. Denn, so der Politikwissenschaftler Cédric Pellen, auch im Wahlkampf sei „kaum inhaltlich debattiert worden“. Es war ein düsteres Bild, das Pellen und Baloge vom Zustand der französischen Demokratie zeichneten. „Wir haben kein parlamentarisches System mehr in Frankreich – seit der Verfassungsreform im Jahr 2000 sind wir von einem halb-präsidentiellen zu einem präsidentiellen System gelangt“, so Martin Baloge. Der wichtigste Gegenspieler des Staatspräsidenten sei inzwischen nicht mehr das Parlament, sondern das Verfassungsgericht. Die Parlamentswahl, die seit 2000 kurz nach der Präsidentschaftswahl stattfindet, sei nurmehr eine Bestätigungswahl, die „dritte Runde der Präsidentschaftswahl“. Wäre Marine Le Pen am Sonntag zur Präsidentin gewählt worden, hätte sie die Verfassung noch nicht einmal ändern müssen, um diktatorisch regieren zu können. Dieser Zustand sei ein „Albtraum“ für jeden Verfassungsrechtler. „Es steht im Widerspruch zu allem, was Montesquieu uns gelehrt hat“, so Baloge.

Die Podiumsdiskussion bot somit einen Einblick in eine innerfranzösische Debatte, die in deutschen Medien wenig rezipiert wird. „Ihre Einschätzung der Situation und des Zustandes der Demokratie in Frankreich klingt ziemlich pessimistisch“, lautete der vorsichtige Kommentar von Prof. Dr. Timm Beichelt. Pellen sprang seinem Kollegen bei: Er teile dessen Analyse. „Wir waren neun Prozentpunkte entfernt von einem autoritären Regime. Und unsere Verfassung lässt dies zu“, bekräftigte Pellen.

Der Populismus und die Schwäche der Parteien

Der Wahlkampf insgesamt sei populistisch geführt worden, fokussiert auf die Personen; die Parteien hätten keine Rolle gespielt, so Baloge. Angesichts der hohen Wahlenthaltung, in der das Misstrauen der französischen Bürgerinnen und Bürger in das politische System zum Ausdruck komme, sei dies sogar folgerichtig. „Macron, Le Pen, Mélenchon – sie alle haben das Narrativ ‚Ich-rette-die-Nation‘ bedient“, analysierte der Politikwissenschaftler.

Pellen attestierte dem französischen Parteiensystem gar einen Totalausfall: „Im Vergleich zur Wahl von 2017, als die Sozialdemokraten und die Gaullisten zusammen immerhin noch rund 27 Prozent der Stimmen holten, waren es 2022 in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl noch nicht einmal sieben Prozent.“ Dies stärke zusätzlich die autoritäre Stellung des Präsidenten, da er sich nicht an einer machtvollen Partei abarbeiten müsse. Macrons erst 2016 gegründete Partei „La République en Marche“ habe weder eine Verwurzelung in einem Milieu oder einer Region, noch sei sie im eigentlichen Sinne als Partei zu bezeichnen. So sei der Eindruck entstanden, dass ein Mann „aus dem Nichts auftauchen“ und Präsident werden könne. Auch sei davon auszugehen, dass Macron nach der Parlamentswahl eine eigene Mehrheit zur Verfügung stehen werde, eine Cohabitation sei nicht zu erwarten. „Es existieren keine starken Gegenkräfte mehr“, resümierte Pellen. Das Paradoxe: Trotz seiner verfassungsrechtlich starken Stellung habe die Legitimation von Macron bei dieser Wahl abgenommen. „Viele Menschen haben ihre Stimme nicht für Macron abgegeben, sondern gegen Le Pen“, so Pellen.

Europapolitik, die Ukraine-Krise? Alles nur Nebenschauplätze. „Macron hat noch nicht einmal die Karte der EU-Präsidentschaft ausgespielt“, bilanzierte Baloge. Angesichts des Erstarkens rechter Kräfte in Frankreich sei es essenziell, den Menschen das Vertrauen in die französische Demokratie und Verfassung zurückzugeben. Dies aber könne nur durch neuerliche Verfassungsreformen erreicht werden.

(YM)

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