„Der Reichtum und die Freiheit unserer Kolleg:innen sind in allergrößter Gefahr“ – Dr. Susann Worschech über „Voices from Ukraine“

Am 3. März 2022 ist die Reihe „Voices from Ukraine“ gestartet, die ukrainischen Forschenden einen Raum zum Austausch bieten möchte. Der erste Gast der Reihe war der Soziologe Timofii Brik von der Kyiv School of Economics. Er berichtete von seinem Alltag in der ukrainischen Hauptstadt nach einer Woche militärischer Angriffe durch die russische Armee und von seiner Forschung. Anlässlich der neuen Reihe erzählt Dr. Susann Worschech, was sie sich von den Veranstaltungen verspricht.

Was ist das Ziel der Reihe, die Sie gemeinsam mit Stefan Henkel nur sieben Tage nach dem Angriff auf die Ukraine umgesetzt haben?
Mit der Gesprächsreihe „Voices From Ukraine“ bietet die Viadrina Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Ukraine eine Plattform, um ihre Arbeit und ihre spezifische Perspektive auf den Krieg vorzustellen. Wir möchten mit unseren Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine im Gespräch bleiben, unsere Zusammenarbeit trotz Krieg fortsetzen, vor allem aber den intellektuellen Reichtum und die wissenschaftliche Vielfalt in der Ukraine zeigen. Dieser Reichtum, die Vielfalt, die Freiheit der Wissenschaft und vor allem unsere Kolleginnen und Kollegen selbst sind in allergrößter Gefahr, auch das soll deutlich werden.

Susann_600 ©Screenshot: Frauke Adesiyan

Wie wählen Sie die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner aus?
Es handelt sich um Menschen, mit denen wir schon zusammen gearbeitet und publiziert haben, oder deren Expertise und Forschungsergebnisse für ein Verstehen der aktuellen Situation besonders wichtig sind. Alles basiert auf persönlichen Netzwerken, die wir vor allem seit 2014 intensiv aufbauen konnten.

Wie erleben Sie die ukrainischen Kolleginnen und Kollegen? Haben die im Moment tatsächlich den Kopf frei für wissenschaftlichen Austausch?
Die ukrainischen Kolleginnen und Kollegen sind unglaublich gefasst. Sie sind wahnsinnig resilient; wie die ukrainische Gesellschaft generell sind sie es fast schon gewohnt, dass Ukrainerinnen und Ukrainer für ihre Freiheit immer wieder kämpfen müssen, auch wenn dieser Krieg natürlich alles Bisherige in den Schatten stellt. Und ich glaube, es ist ganz wichtig, zu zeigen, was für eine gute, kritische Forschung diese Leute machen, wie sie diese schrecklichen Ereignisse einordnen und reflektieren. Wir wollen nicht über die Ukraine, sondern mit der Ukraine über den Krieg sprechen, und das zeigt unseren Kolleginnen und Kollegen auch, dass wir ihre Perspektive, ihre Beiträge ernst nehmen.

Wie geht es Ihnen mit Ihren engen persönlichen und professionellen Kontakten in die Ukraine?
Dass man derzeit nicht die Nerven für Wissenschaft hat, das beobachte ich vor allem an mir. Es ist die schrecklichste Zeit in meinem Wissenschaftler-Dasein. Normale Forschung ist derzeit undenkbar. Eigentlich freut man sich ja, wenn die eigenen Recherchen und Ergebnisse mal gehört werden, momentan fühlt sich alles nur falsch an. Dass manche unter uns Osteuropa-Expertinnen und -Experten die Katastrophe haben kommen sehen, wir es uns aber selbst nicht eingestehen wollten und nicht laut genug waren, ist tragisch. Wir werden daraus vieles lernen müssen.

Soziologische Studien einer Gesellschaft im Krieg

Timofii Brik ist Assistant Professor an der Kyjiw School of Economics. In der Auftakt-Veranstaltung von „Voices from Ukraine“ versicherte er von seinem heimischen Sofa aus den Teilnehmenden des Online-Gespräches zunächst, dass er sich sicher fühle, auch wenn er in der Nacht vor dem Gespräch laute Explosionen in seiner Nachbarschaft gehört hatte. Schnell wechselte das Gespräch von der persönlichen auf die professionelle Ebene. Timofii Brik berichtete, dass er an viele seiner Forschungsgebiete vor dem Krieg anknüpfen kann.

Timofii_300 ©Screenshot: Frauke Adesiyan


Den Trend zu einer nationalen Identität beispielsweise habe er schon vorher beobachtet. „Die Nähe zur Nation und die Bereitschaft, diese auch zu verteidigen, überrascht mich nicht. Es war eine Fehleinschätzung Russlands, dass die Ukrainer im Osten sich mehr Russland zugehörig fühlen als der Ukraine“, gab Brik ein Beispiel.

Eine weiteres seiner Forschungsgebiete, den Wandel der Mediennutzung, kann er gerade an sich selbst beobachten: „Vor einer Woche habe ich nur auf Telegram kommuniziert, inzwischen nutze ich ungefähr 20 verschiedene Kanäle, um informiert und in Kontakt zu bleiben.“ Auch die Art, wie auf all diesen Kanälen kommuniziert werde, habe sich gewandelt. „Da gab es eine steile Lernkurve, da sind wir sehr schnell sehr diszipliniert geworden“, berichtete Brik. Fast schon im Militär-Stil gebe man sich kurz Bescheid, wenn man Nachrichten gelesen hat und sie umsetzt – samt dem abschließenden „Over“.  Eine seiner wichtigsten Informationsquellen in diesen Tag sei der Telegram-Kanal von Vitali Klitschko, dem Bürgermeister von Kyjiw. „Es ist das erste Mal, dass ich meinem Bürgermeister vertraue und die Nachrichten weiterleite“, sagte Brik.

(FA)

Abteilung für Hochschul­kommunikation