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Naher Osten, ferner Frieden? – Ein mediationsmethodischer Blick auf den Nahost-Konflikt

Im Mai 2021 flammte der Nahost-Konflikt erneut auf. Aus diesem Anlass sprechen Dr. Anne Holper und Prof. Dr. Lars Kirchhoff, Co-Direktorin und Co-Direktor des Center for Peace Mediation an der Viadrina (CPM), das seit 2018 eng mit dem Auswärtigen Amt kooperiert, im Interview über die Potenziale des Vermittelns in diesem Konflikt.

Frau Holper, Herr Kirchhoff, zuweilen hat man den Eindruck, dass sich die Konfliktparteien im Nahen Osten in ihrer Situation eingerichtet haben und eine nachhaltige Lösung gar nicht mehr gewollt ist. Wie sieht Vermittlungsarbeit in so einer verfahrenen Situation aus?

Lars Kirchhoff: Auf vielschichtige Konflikte wie den Nahost-Konflikt wird parallel auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen reagiert – ein Ansatz, der als multi-track diplomacy bezeichnet wird. Während etwa auf der obersten Ebene versucht wird, einen Waffenstillstand zu erzielen, werden eine Ebene darunter Optionen für grundlegende Weichenstellungen der Zukunft sondiert. Parallel dazu werden Gesprächskanäle auf der mittleren politischen und zivilgesellschaftlichen Ebene offengehalten oder gesucht. Auch die Ziele von Vermittlungsarbeit variieren dabei deutlich: von der Beendigung der Kampfhandlungen und dem pragmatischen Management der Konfliktfolgen und Wiederherstellen von Infrastruktur in Konfliktgebieten über die Prävention weiterer Eskalation bis hin zur langfristigen gesellschaftlichen Transformation, die die eigentlichen Konfliktursachen angeht. Selbst in einer diplomatisch verfahrenen Situation wie dem Nahost-Konflikt lässt sich darauf setzen, dass die breite Bevölkerung ihr Alltagsleben friedlich organisieren will. Vermittlungsarbeit konzentriert sich daher konsequent auf die Bereiche, in denen der Konflikt „reif“ für Veränderung ist oder dieser Reifungsprozess unterstützt werden kann.

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Dr. Anne Holper und Prof. Dr. Lars Kirchhoff, Co-Direktorin und Co-Direktor des Center for Peace Mediation an der Viadrina (CPM).

Foto/Montage: Heide Fest


Es heißt, in Mediation sollte man ergebnisoffen gehen. Im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern scheint die Zweistaatenlösung unumgänglich. Unterscheidet sich damit dieser Konflikt von anderen?

Anne Holper: Ergebnisoffenheit ist in der Tat ein Kernmerkmal mediativen Vorgehens. Zugleich ist es ein Kernmerkmal festgefahrener Konflikte, dass Konfliktparteien und konfliktbetroffene Akteure jeweils auf bestimmte Lösungsvorstellungen beharren, die jeweils mit den Positionen anderer Konfliktparteien nicht vereinbar sind. Zu Ergebnisoffenheit kommt man daher nur schrittweise: Ein Mediationsverfahren nimmt im ersten Schritt die Positionen der Konfliktparteien auf, nicht zuletzt, dass diese Vertrauen in den Vermittlungsprozess aufbauen können. Im zweiten Schritt werden dann die dahinterstehenden Kernanliegen und Befürchtungen ermittelt; im dritten Schritt verschiedene Optionen für deren gemeinsame oder parallele Beantwortung entwickelt. Dass sich die Zweistaatenlösung bislang nicht realisieren ließ, weist aus mediationsmethodischer Sicht darauf hin, dass diese die Kerninteressen aller relevanten Akteure (noch) nicht ausreichend widerspiegelt. Deswegen wird seit einigen Jahren auch über interessengerechtere Ein-Staaten- oder Bi-Nationale Modelle nachgedacht. Und selbst wenn eine Lösung als komplett alternativlos bezeichnet wird, bedeutet das regelmäßig nicht, dass es keine anderen Optionen gibt, sondern dass es sich um den vom Sprechenden favorisierten Ausgang handelt.

Wie kann es gelingen, bei einer so historisch belasteten Auseinandersetzung vorurteilsfrei und neutral in die Verhandlung zu gehen?

Anne Holper: Die Gewalt-und-Leid-Spirale scheint auf den ersten Blick unentrinnbar, weil die vielen Kriege auf beiden Seiten Verluste, Ungerechtigkeitserfahrungen und Traumatisierungen hinterlassen haben. Das Gefühl der Bedrohtheit hat auf beiden Seiten Berechtigung, ebenso das Gefühl der moralischen Begründung des eigenen politischen Anspruchs. Jeder Schlag provoziert daher absehbar einen Gegenschlag. Zudem sind Kontakte und Zusammenleben im Alltag stark reduziert, so dass konfliktübliche Dämonisierungsnarrative oft kein Gegengewicht finden. Einzelne auf beiden Seiten, die sich jeweils im internen Machtkampf zu behaupten versuchten, konnten all dies nutzen. Aktuell erhoffen sich die radikalen Akteure immer noch mehr von einer Weiterführung des Konfliktes als von Friedensbemühungen; der Konflikt ist letztlich, im von Lars Kirchhoff skizzierten Sinne, in wesentlichen Bereichen immer noch nicht „reif“ für politische Verhandlungen.

Dennoch bieten sich für vermittelnde Akteure verschiedene Ansatzpunkte, an den nächsten politischen Schritten und konkreten partiellen Verbesserungen zu arbeiten, die nur auf dem Verhandlungsweg erreichbar sind. So etwa an der baldigen Durchführung demokratischer Wahlen auf palästinensischer Seite, an der Schaffung von Jobs in dem von der Hamas kontrollierten Gazastreifen oder an gemeinsamen Lösungen für die Abwasserinfrastruktur. Die veränderten Machtverhältnisse nach der jüngsten Eskalation und das neue Engagement der USA könnten mittelfristig auch wieder zu mehr politischer Bewegung auf den oberen Ebenen führen.

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Jerusalem ist ein zentraler Streitpunkt zwischen den Konfliktparteien. Die Stadt soll Hauptstadt des israelischen wie auch des palästinensischen Volkes sein. Foto: Pixabay


Neutral dürfte kaum jemand bleiben angesichts der moralischen, humanitären und politischen Gretchenfragen dieses Konfliktes. Gemäß der UN Guidance for Effective Mediation ist für gelingende Konfliktvermittlung aber auch keine Neutralität erforderlich, sondern Allparteilichkeit. Dafür müssen sich Vermittler die vielfache eigene Voreingenommenheit und Begrenztheit des eigenen Handlungsspielraumes etwa durch Bündnisverpflichtungen bewusst und gegenüber den Parteien transparent machen. Die israelisch-palästinensische NGO „Combatants for Peace“ benennt explizit, was Allparteilichkeit Deutschlands in diesem Konflikt bedeuten könnte: die auf beiden Seiten erlittenen historischen und gegenwärtigen Ungerechtigkeiten, die eigene historische Mitverantwortung sowie die daraus resultierende einseitige Loyalitätsverpflichtung gegenüber Israel voll anzuerkennen. In vielen Kreisen wird angesichts der aktuellen Situation der Wunsch laut, Deutschland möge die besondere eigene Rolle für ein intensiveres Engagement zur Beendigung dieses Konfliktes nutzen. Momentan steht die historische Solidaritätsverpflichtung gegenüber dem jüdischen Volk einem intensiveren allparteilichen Engagement noch eher im Wege, weil sie eine echte Gleichbehandlung beider Seiten mit Blick auf politisch-rechtliche Grenzziehungen als auch Anerkennung der Verluste auszuschließen scheint. Dieses Dilemma müsste im ersten Schritt offen anerkannt und für gleichwohl realisierbare Vermittlungsstrategien aufgeschlüsselt werden.

In der Mediation sollten Konfliktparteien mindestens ein Bekenntnis zu Frieden und Menschenwürde abgelegt haben. Die Hamas beispielsweise spricht Israel aber das Existenzrecht ab. Wie kann man da überhaupt versöhnen?

Lars Kirchhoff: Mit Blick auf den aktuellen „Feind“ ist in Konflikten das Bekenntnis zu Menschenwürde und der Legitimität selbst grundlegendster Rechte regelmäßig stark relativiert, insbesondere wenn tödliche Gewalt gegen die eigene Gruppierung verübt wurde wie jetzt erneut im Nahost-Konflikt mit Hunderten ziviler Opfer. Und dennoch gibt es zwischen den Parteien signifikante weltanschauliche Schnittmengen, mit denen sich arbeiten lässt: Hinter den politischen Fragen zu Territorium, Religionsausübung und Siedlungspolitik stehen im Nahostkonflikt auf beiden Seiten elementare menschliche Existenzängste und Traumatisierungen, die mit der faktisch durchlebten Erfahrung von Unterdrückung und Vertreibung verbunden sind. Existenzrechte werden abgesprochen, wenn die Wahrnehmung eines Nullsummenspiels dominiert oder die Gefahr gesehen wird, dass traumatische Erfahrungen reaktiviert oder wiederholt werden. Im Nahostkonflikt liegt diese Wahrnehmung auf beiden Seiten vor, politisch übersetzt wird das staatliche Existenzrecht abgesprochen.

Daher gilt es, Wertvorstellungen auf das Individuum zurückzuführen und dort Minimalkonsense zu generieren, so, dass Menschen ein Recht auf Leben in Würde und Sicherheit haben. An genau dieser Wahrnehmung gilt es zu arbeiten und erst anschließend „technische“ Umsetzungen zu sondieren – wie Zwei- oder Ein-Staaten-Lösungen –, die die zentralen Ansprüche beider Seiten parallel erfüllen. Der erste Schritt ist die Suche nach dem Mikrokonsens, der zweite die nach technischen Lösungen. Auch die Bereitschaft der Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrains und Marokkos, Israel offiziell anzuerkennen, hilft dabei, Grenzen des Denkbaren – und politisch Aussprechbaren – zu verschieben. Gleiches gilt für die völlig neuen Allianzen im Rahmen der Regierungsbildung, Personen wie Jair Lapid, einen klaren Befürworter des Siedlungsbaus im Westjordanland, und Mansour Abbas von der Raam-Partei, an einen Tisch und in einen Dialog mit gemeinsamem Ziel zu bringen.     

Echte Versöhnung ist ein von diesen Fragen abgekoppelter, langfristiger Prozess. Und der dauert eher Generationen, wie ein Blick gen Südafrika oder Kolumbien ebenso zeigt wie das Verhältnis zwischen Polen und Deutschland nach 1945. 

Inwiefern sind Viadrina-Forschende an Friedensverhandlungen in Konfliktsituationen beteiligt? Gibt es in akuten Auseinandersetzungen ein rotes Telefon – oder wie kommt man zusammen?

Lars Kirchhoff: Solche „roten Telefone“ gibt es tatsächlich: etwa bei Konflikten mit Nordkorea hatten sie eine wichtige Funktion, aber sie stehen nicht an der Viadrina. Auch ruft im Moment der akuten Gewalteskalation niemand nach einem wissenschaftlichen statt politischen Akteur wie dem Center for Peace Mediation. Unsere Beiträge erfolgen eher aus der zweiten Reihe, über langjährige Kooperationen mit dem Auswärtigen Amt, der OSZE und über die internationalen Netzwerke etwa mit der Schweiz. Und die Beiträge sind sehr unterschiedlicher Art, von außen oft unsichtbar: wir führen vertrauensbildende Maßnahmen mit Konfliktparteien durch, bereiten Analysen für politische Vermittler:innen vor und beraten in vertraulichen Strategieworkshops oder Coachings über methodische Optionen, Gespräche mit Delegationen zu führen, einen Friedensprozess zu initiieren oder zu optimieren. In stimmigen Konstellationen werden wir auch selbst vermittelnd tätig.      

Können Sie berichten, in welchen Krisen Viadrina-Akteure vermittelt haben?  

Anne Holper: Gerade wenn es um laufende Prozesse geht oder wir als Unterstützer anderer Drittparteien agieren, dürfen konkrete Kontexte und Maßnahmen in der Regel nicht benannt werden. Beiträge, über die offen gesprochen werden kann, hat das CPM aber etwa im Konflikt zwischen Georgien und Abchasien, auf unterschiedlichen Ebenen der Ukraine-Krise und im Kontext Afghanistan geleistet.

(HST)

 

Weiterführende Links

Auf der Homepage des Center for Peace Mediation finden Sie weitere Informationen zum Mediation Hub der Viadrina im Auswärtigen Amt. Im GEO-Interview und im Band Friedensmediation „Spannungsfeld aus Methodik, Macht und Politik“ wird die methodische Vorgehensweise der Friedensmediation umfassend vorgestellt, in zwei Podcasts „Deutschland & Friedensmediation“ die Geschichte und die politischen Einsatzfelder deutscher Friedensmediation diskutiert.

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