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Interview: Dr. Paweł Lewicki erforscht Europa anhand von Gender und Sexualität

Was ist Europa, was bedeutet Europäisierung? Dr. Paweł Lewicki, Mitglied des Viadrina Instituts für Europa-Studien (IFES), untersucht in seiner digital frei zugänglichen Publikation mit dem Titel „Struggles over Europe: Postcolonial East/West Dynamics of Race, Gender and Sexuality“ gemeinsam mit Prof. Randi Gressgård (Universität Bergen) und Dr. Rafał Smoczyński (Polnische Akademie der Wissenschaften) diese Fragen anhand von Kategorien, denen in der wissenschaftlichen Forschung bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Herr Dr. Lewicki, wer kämpft aus Ihrer Sicht um Europa – und warum?

In den vergangenen Jahren haben wir in verschiedenen europäischen Ländern eine vermehrt xenophobe und nationalistische Rhetorik beobachtet – nicht zuletzt in den osteuropäischen Ländern. Diese nationalistischen Diskurse beinhalten Visionen eines Europas, die als Gegenentwurf zum „liberalen Europa“ oder zum „Europa der Vielfalt“ zu verstehen sind. Ob nun die Rhetorik der polnischen PiS-Partei, Putins Vision oder die der AfD – alle Vorschläge haben einen universalistischen Anspruch, wie Europa sein sollte. Unser Beitrag mit dem Titel „Struggles over Europe“ soll all diese Verhandlungen sichtbar machen.

Was genau wird da verhandelt?

Wir meinen, dass sich diese Verhandlungen um Europa besonders gut darstellen lassen, indem man sich die Diskurse, Praktiken und die Politik rund um Sexualität, Geschlecht und rassistische Kategorisierung anschaut.

Wie gehen Sie an diese großen Themenkomplexe heran?

Wir nehmen eine post- und dekoloniale Perspektive ein und fokussieren uns auf die Trennung zwischen „Osten“ und „Westen“ und auf die Diskurse zu Geschlecht und Sexualität in Bezug auf Europa und Europäisierung.

Postkoloniale Wissenschaft hat sich aus einer Reflexion über die Art und Weise der weißen Herrschaft über die kolonialisierten Länder etabliert. Diese Wissenschaft hat gezeigt, wie Europa seine kulturelle Überlegenheit in einem wechselseitigen Verhältnis zwischen dem „Vaterland“ und der Kolonie ausgebaut hat. Obwohl diese Wissenschaft schon seit mindestens Mitte der 1980er Jahre präsent ist, sind rassistische Diskurse zu „zivilisatorischem Fortschritt“ und zur „Toleranz“ in Verbindung mit Europa sehr präsent.

Diese rassistische Dynamik ist besonders gut am Beispiel der Sexual- und Genderpolitik sichtbar. Von der jeweils anderen Seite wird der Osten als „intolerant“, und der Westen als „moralisch verdorben“ oder „nicht normal“ abgebildet und angesehen. Kulturelle Hierarchisierungen und Essentialisierungen, die dem Rassismus inhärent sind, sind also in ganz Europa präsent und bilden dessen Kulturerbe.

Gibt es ein aktuelles Beispiel zu diesen Beobachtungen?

Wie schon Michel Foucault gezeigt hat, sind sowohl Gender als auch die Sexualität ein Bestandteil der Regierungstechniken und ein Element der Kontrolle des Staates über seine Bevölkerung. Auch in Europa werden Gender und Sexualität genutzt, um für bestimmte Europa-Visionen zu werben. Während im Westen bestimmte Formen von „progressiven“ Gender-Identitäten in Abgrenzung zu den vermeintlich nicht progressiven Sexualitäten der muslimischen „Anderen“ in die staatliche Politik miteinbezogen werden, werden im Osten beziehungsweise konkret in Polen sogenannte LGBT-freie Zonen ausgerufen. Dies geschieht, um ein bestimmtes Modell der Familie und Geschlechterrollen zu verfestigen oder zu „verteidigen“.

Ost- und Westeuropa sind sich bei aller Verschiedenheit also in ihrem zweifelhaften Erbe ähnlich?

Wir argumentieren, dass es sehr viel mehr Gemeinsamkeiten und Parallelen zwischen Osten und Westen gibt, als man zurzeit sehen möchte. Rassismus, der sich im Zuge der Kolonialisierung etabliert hat und der als eine Form der kulturellen Hierarchisierung zu betrachten ist, ist mittlerweile in ganz Europa präsent, wenn auch in unterschiedlichen Formen – je nach historischem und sozialem Kontext. Aber der Blick auf die Politik und die Diskurse zu Geschlecht und Sexualität und deren Verflechtungen zwischen Osten und Westen ermöglicht, dieses rassistische Erbe sichtbar zu machen. Ein Erbe, das sowohl im Osten als auch im Westen selten thematisiert wird und deswegen so hartnäckig ist. (HST)

Das Buch ist kostenfrei abrufbar unter: https://intersections.tk.mta.hu/index.php/intersections/issue/view/24

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